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02/02/2024

Jürgen Habermas, der „Hegel der Bundesrepublik“, hat endlich seinen Napoleon gefunden, und er heißt Benjamin Netanyahu
Elend der deutschen Philosophie im 21. Jhdt.

Nachfolgend drei Texte, die das Desaster des europäischen Denkens in Zeiten des Völkermords illustrieren, der von der moralischsten Armee der Welt mit dem Segen und der bewaffneten Unterstützung der Führer der aufgeklärtesten Mächte der Welt begangen wird. Übersetzungen von Helga Heidrich, Tlaxcala

 Dank Gaza ist die europäische Philosophie als ethisch bankrott entlarvt worden

Hamid Dabashi, Middle Easte Eye, 18/1/2024


Hamid Dabashi ist Hagop Kevorkian Professor für Iranistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University in New York, wo er Vergleichende Literaturwissenschaft, Weltkino und Postkoloniale Theorie unterrichtet. Zu seinen jüngsten Büchern gehören The Future of Two Illusions: Islam after the West (2022); The Last Muslim Intellectual: The Life and Legacy of Jalal Al-e Ahmad (2021); Reversing the Colonial Gaze: Persian Travelers Abroad (2020) und The Emperor is Naked: On the Inevitable Demise of the Nation-State (2020). Seine Bücher und Essays sind in viele Sprachen übersetzt worden.

Von Heideggers Nationalsozialismus bis zu Habermas' Zionismus ist das Leiden des „Anderen“ von geringer Bedeutung

Stellen Sie sich vor, der Iran, Syrien, der Libanon oder die Türkei - mit voller Unterstützung, Bewaffnung und diplomatischem Schutz durch Russland und China - hätten den Willen und die Mittel, Tel Aviv drei Monate lang Tag und Nacht zu bombardieren, Zehntausende von Israelis zu ermorden, unzählige weitere zu verstümmeln, Millionen obdachlos zu machen und die Stadt in einen unbewohnbaren Trümmerhaufen zu verwandeln, so wie heute Gaza.

Stellen Sie sich das einmal für ein paar Sekunden vor: der Iran und seine Verbündeten würden absichtlich bewohnte Teile von Tel Aviv, Krankenhäuser, Synagogen, Schulen, Universitäten, Bibliotheken - oder überhaupt alle bewohnten Orte - angreifen, um ein Maximum an zivilen Opfern zu gewährleisten. Sie würden der Welt sagen, sie seien nur auf der Suche nach dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und seinem Kriegskabinett. 

Fragen Sie sich, was die USA, das Vereinigte Königreich, die EU, Kanada, Australien und insbesondere Deutschland innerhalb von 24 Stunden nach dem Ansturm dieses fiktiven Szenarios tun würden.

Kehren Sie nun in die Realität zurück und bedenken Sie, dass Tel Avivs westliche Verbündete seit dem 7. Oktober (und seit Jahrzehnten davor) nicht nur zusehen, was Israel dem palästinensischen Volk antut, sondern es auch mit militärischer Ausrüstung, Bomben, Munition und diplomatischem Beistand versorgen, während US-amerikanische Medien ideologische Rechtfertigungen für das Abschlachten und den Völkermord an den Palästinensern liefern. 

Das oben beschriebene fiktive Szenario würde von der bestehenden Weltordnung nicht einen Tag lang toleriert werden. Mit der militärischen Gewalt der USA, Europas, Australiens und Kanadas, die vollkommen hinter Israel stehen, sind wir hilflose Menschen auf der Welt, genau wie die Palästinenser, nichts wert. Dies ist nicht nur eine politische Realität, sondern betrifft auch die moralische Vorstellung und das philosophische Universum dessen, was sich „der Westen“ nennt.  Haut du formulaire

Bas du formulaire

Haut du formulair

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Diejenigen von uns, die sich außerhalb der europäischen Sphäre der moralischen Vorstellungskraft befinden, existieren nicht in ihrem philosophischen Universum. Araber, Iraner und Muslime oder Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika - wir haben für europäische Philosophen keine ontologische Realität, außer als metaphysische Bedrohung, die besiegt und besänftigt werden muss.

Angefangen bei Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel bis hin zu Emmanuel Levinas und Slavoj Zizek sind wir Merkwürdigkeiten, Dinge, erkennbare Objekte, die die Orientalisten zu entschlüsseln hatten. Die Ermordung von Zehntausenden von uns durch Israel oder die USA und ihre europäischen Verbündeten lässt die europäischen Philosophen daher nicht im Geringsten innehalten. 

Europäisches Stammpublikum

Wer das bezweifelt, braucht nur einen Blick auf den führenden europäischen Philosophen Jurgen Habermas und einige seiner Kollegen zu werfen, die sich in einem erstaunlich unverhohlenen Akt grausamer Gemeinheit für das Abschlachten der Palästinenser durch Israel ausgesprochen haben. Die Frage ist nicht mehr, was wir von Habermas, der jetzt 94 Jahre alt ist, als Mensch halten sollen. Die Frage ist, was wir von ihm als Sozialwissenschaftler, Philosoph und kritischer Denker halten sollen. Ist das, was er denkt, für die Welt noch von Bedeutung, wenn es das jemals war? 

Die Welt hat sich ähnliche Fragen über einen anderen bedeutenden deutschen Philosophen, Martin Heidegger, angesichts seiner verhängnisvollen Verbindungen zum Nazismus gestellt. Meiner Meinung nach müssen wir jetzt solche Fragen über Habermas' gewalttätigen Zionismus und die bedeutenden Konsequenzen für das, was wir von seinem gesamten philosophischen Projekt halten könnten, stellen.

Wenn Habermas in seiner moralischen Vorstellungskraft nicht ein Jota Platz für Menschen wie die Palästinenser hat, haben wir dann irgendeinen Grund, sein gesamtes philosophisches Projekt als in irgendeiner Weise auf den Rest der Menschheit bezogen zu betrachten - jenseits seines unmittelbaren europäischen Stammpublikums? 

In einem offenen Brief an Habermas sagte der angesehene iranische Soziologe Asef Bayat, er widerspreche „seinen eigenen Ideen“, wenn es um die Situation in Gaza geht. Bei allem Respekt, ich bin anderer Meinung. Ich glaube, dass Habermas' Missachtung des Lebens der Palästinenser ganz im Einklang mit seinem Zionismus steht. Sie entspricht ganz und gar der Weltanschauung, nach der Nichteuropäer nicht vollständig menschlich sind oder „menschliche Tiere“ sind, wie der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant offen erklärt hat.

Diese völlige Missachtung der Palästinenser ist tief in der deutschen und europäischen philosophischen Vorstellungswelt verwurzelt. Die allgemeine Weisheit besagt, dass die Deutschen aus der Schuld am Holocaust eine solide Verpflichtung gegenüber Israel entwickelt haben.

Aber für den Rest der Welt, wie das großartige Dokument, das Südafrika dem Internationalen Gerichtshof vorgelegt hat, beweist, gibt es eine perfekte Übereinstimmung zwischen dem, was Deutschland während seiner Nazizeit getan hat, und dem, was es jetzt während seiner zionistischen Ära tut.

Ich glaube, dass Habermas' Position im Einklang mit der Politik des deutschen Staates steht, der sich an der zionistischen Abschlachtung der Palästinenser beteiligt. Sie steht auch im Einklang mit dem, was als „deutsche Linke“ gilt, mit ihrem ebenso rassistischen, islamfeindlichen und fremdenfeindlichen Hass auf Araber und Muslime und ihrer uneingeschränkten Unterstützung für die völkermörderischen Aktionen der israelischen Siedlerkolonie.

Man möge uns verzeihen, wenn wir dachten, dass Deutschland heute keine Holocaust-Schuld, sondern Völkermord-Nostalgie hat, da es sich stellvertretend an Israels Abschlachten der Palästinenser im letzten Jahrhundert (nicht nur in den letzten 100 Tagen) ergötzt hat. 

Moralische Verderbtheit

Der Vorwurf des Eurozentrismus, der immer wieder gegen das Weltbild der europäischen Philosophen erhoben wird, beruht nicht nur auf einem epistemischen Fehler in ihrem Denken. Er ist ein konsequentes Zeichen moralischer Verkommenheit. Ich habe bereits mehrfach auf den unheilbaren Rassismus hingewiesen, der dem europäischen philosophischen Denken und seinen berühmtesten Vertretern heute zugrunde liegt.

Diese moralische Verderbtheit ist nicht nur ein politischer Fauxpas oder ein ideologischer blinder Fleck. Sie ist tief in ihre philosophischen Vorstellungen eingeschrieben, die unheilbar stammesangehörig geblieben sind. 

An dieser Stelle müssen wir an die berühmte Aussage des glorreichen martinikanischen Dichters Aimé Cesaire erinnern:

»Es wäre schon die Mühe wert, klinisch genau und in allen Einzelheiten die Methoden Hitlers und des Hitlerismus zu untersuchen und dem ach so distinguierten, ach so humanistischen, ach so christlichen Bourgeois des 20. Jahrhunderts begreiflich zu machen, dass er selbst einen in sich trägt, ohne es zu wissen, dass Hitler ihn bewohnt, dass Hitler sein innerer Dämon ist, dass sein Wettern gegen ihn Mangel an Logik ist und dass im Grunde das, was er Hitler nicht verzeiht, nicht das Verbrechen an sich, das Verbrechen gegen den Menschen ist, nicht die Erniedrigung des Menschen an sich, sondern das Verbrechen gegen den weißen Menschen, die Erniedrigung des weißen Menschen und dass er, Hitler, kolonialistische Methoden auf Europa angewendet hat, denen bislang nur die Araber Algeriens, die Kulis Indiens und die Neger Afrikas ausgesetzt waren.« (Über den Kolonialismus, 1950/1955)

Palästina ist heute eine Fortsetzung der kolonialen Gräueltaten, die Césaire in dieser Passage anführt. Habermas scheint nicht zu wissen, dass seine Befürwortung des Abschlachtens der Palästinenser völlig im Einklang mit dem steht, was seine Vorfahren in Namibia während des Völkermords an den Herero und Nama getan haben. Wie der sprichwörtliche Vogel Strauß haben die deutschen Philosophen ihre Köpfe in ihre europäischen Wahnvorstellungen gesteckt und glauben, dass die Welt sie nicht als das sieht, was sie sind. 

Letztendlich hat Habermas meiner Meinung nach nichts Überraschendes oder Widersprüchliches gesagt oder getan, ganz im Gegenteil. Er hat dem unheilbaren Tribalismus seines philosophischen Stammbaums, der fälschlicherweise eine universelle Haltung eingenommen hatte, vollkommen entsprochen.

Die Welt ist nun von diesem falschen Gefühl der Universalität befreit. Philosophen wie VY Mudimbe in der Demokratischen Republik Kongo, Walter Mignolo oder Enrique Dussel in Argentinien oder Kojin Karatani in Japan haben einen weitaus legitimeren Anspruch auf Universalität als Habermas und Konsorten es je hatten. 

Meiner Meinung nach markiert der moralische Bankrott von Habermas' Erklärung zu Palästina einen Wendepunkt in der kolonialen Beziehung zwischen der europäischen Philosophie und dem Rest der Welt. Die Welt ist aus dem Dornröschenschlaf der europäischen Ethnophilosophie geweckt worden. Heute verdanken wir diese Befreiung dem weltweiten Leiden von Völkern wie den Palästinensern, deren langanhaltender, historischer Heroismus und ihre Opfer die unverhohlene Barbarei, die das Fundament der „westlichen Zivilisation“ bildet, endgültig demontiert haben.  

Habermas, von Johannes Hartmann

 

Grundsätze der Solidarität. Eine Stellungnahme

Nicole Deitelhoff, Rainer Forst, Klaus Günther und Jürgen Habermas, 13. November 2023

Die derzeitige Situation, die durch den an Grausamkeit nicht zu überbietenden Angriff der Hamas und Israels Reaktion darauf geschaffen wurde, hat zu einer Kaskade von moralisch-politischen Stellungnahmen und Demonstrationen geführt. Wir sind der Auffassung, dass bei all den widerstreitenden Sichtweisen, die geäußert werden, einige Grundsätze festzuhalten sind, die nicht bestritten werden sollten. Sie liegen der recht verstandenen Solidarität mit Israel und Jüdinnen und Juden in Deutschland zugrunde.

Das Massaker der Hamas in der erklärten Absicht, jüdisches Leben generell zu vernichten, hat Israel zu einem Gegenschlag veranlasst. Wie dieser prinzipiell gerechtfertigte Gegenschlag geführt wird, wird kontrovers diskutiert; Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Vermeidung ziviler Opfer und der Führung eines Krieges mit der Aussicht auf künftigen Frieden müssen dabei leitend sein. Bei aller Sorge um das Schicksal der palästinensischen Bevölkerung verrutschen die Maßstäbe der Beurteilung jedoch vollends, wenn dem israelischen Vorgehen genozidale Absichten zugeschrieben werden.

Insbesondere rechtfertigt das Vorgehen Israels in keiner Weise antisemitische Reaktionen, erst recht nicht in Deutschland. Es ist unerträglich, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder Drohungen gegen Leib und Leben ausgesetzt sind und vor physischer Gewalt auf der Straße Angst haben müssen. Mit dem demokratischen, an der Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde orientierten Selbstverständnis der Bundesrepublik verbindet sich eine politische Kultur, für die im Lichte der Massenverbrechen der NS-Zeit jüdisches Leben und das Existenzrecht Israels zentrale, besonders schützenswerte Elemente sind. Das Bekenntnis dazu ist für unser politisches Zusammenleben fundamental. Die elementaren Rechte auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit sowie auf Schutz vor rassistischer Diffamierung sind unteilbar und gelten gleichermaßen für alle. Daran müssen sich auch diejenigen in unserem Land halten, die antisemitische Affekte und Überzeugungen hinter allerlei Vorwänden kultiviert haben und jetzt eine willkommene Gelegenheit sehen, sie ungehemmt auszusprechen.


Quelle: https://www.normativeorders.net/2023/grundsatze-der-solidaritat/

Habermas, von Hadi Asadi, Iran

 Jürgen Habermas widerspricht seinen eigenen Ideen, wenn es um den Gazastreifen geht

Einer der einflussreichsten Philosophen der Welt hat sich zum Krieg in Gaza geäußert. Ein Nahostwissenschaftler erklärt ihm, warum er falsch liegt

Anmerkung der Redaktion von New Lines: Jürgen Habermas und Asef Bayat sind herausragende globale Denker. Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und werden an Universitäten auf der ganzen Welt gelehrt. Habermas gehört zum Pantheon der legendären Frankfurter Schule der kritischen Theorie, zusammen mit den verstorbenen Theodor Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse. Am bekanntesten ist er jedoch für seine Ideen über die „Öffentlichkeit“ - einen Bereich, in dem Bürger zusammenkommen, um über Angelegenheiten von allgemeinem Interesse zu debattieren, und in dem die „öffentliche Meinung“ gebildet wird, was er auf Kaffeehäuser und literarische Salons im Europa des 18. Jahrhundert zurückverfolgt - und als Verteidiger der liberalen Demokratie gegen ihre Kritiker von links und rechts. Die Herausforderung, die Bayat in diesem offenen Brief stellt, ist ihm nicht fremd; seine sehr öffentlichen Debatten und intellektuellen Kämpfe über viele Jahrzehnte hinweg haben ihn in Deutschland zu einem bekannten Namen gemacht.

Bayat ist ein Soziologe des zeitgenössischen Nahen Ostens, der vor allem für sein Konzept des „Post-Islamismus“ und für seine strukturierten Studien der Straßenpolitik, des Alltagslebens und der Art und Weise, wie gewöhnliche Menschen den Nahen Osten verändern, bekannt ist (der Untertitel seines 2013 erschienenen Buches „Life as Politics“). Habermas ist für seine jüngsten Äußerungen zum Gaza-Krieg vielfach kritisiert worden, aber was diesen offenen Brief auszeichnet, ist seine immanente Kritik: Bayat versucht zu zeigen, wie Habermas es versäumt, seine eigenen Ideen auf den Fall Israel-Palästina anzuwenden. Es ist eine Kritik aus der Logik des Denkens von Habermas heraus. Das verleiht ihr eine Kraft, die bei Habermas und seinen Verteidigern Widerhall finden wird - oder sollte. Es handelt sich eher um eine Einladung als um eine Polemik. Es ist ein Versuch, sich einzubringen, und wir veröffentlichen ihn hier in der Hoffnung, dass er genau das tun wird.

Asef Bayat, New Lines, 8.12.2023


Asef Bayat ist Autor und Professor für Soziologie und Nahoststudien an der University of Illinois Urbana-Champaign

Lieber Professor Habermas,

Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr an mich, aber wir sind uns im März 1998 in Ägypten begegnet. Sie kamen als angesehener Gastprofessor an die Amerikanische Universität in Kairo, um mit der Fakultät, den Studenten und der Öffentlichkeit zu sprechen. Alle waren begeistert, Sie zu hören. Ihre Ideen über die Öffentlichkeit, den rationalen Dialog und das demokratische Leben waren wie ein frischer Wind in einer Zeit, in der Islamisten und Autokraten im Nahen Osten die freie Meinungsäußerung unter dem Deckmantel des „Schutzes des Islam“ unterdrückten. Ich erinnere mich an ein angenehmes Gespräch über Iran und Religionspolitik, das wir bei einem Abendessen im Haus eines Kollegen führten. Ich versuchte, Ihnen die Entstehung einer „post-islamistischen“ Gesellschaft im Iran zu vermitteln, die Sie später auf Ihrer Reise nach Teheran im Jahr 2002 zu erleben schienen, bevor Sie über eine „post-säkulare“ Gesellschaft in Europa sprachen. Wir in Kairo sahen in Ihren Kernkonzepten ein großes Potenzial für die Förderung einer transnationalen Öffentlichkeit und des interkulturellen Dialogs. Wir haben uns den Kern Ihrer kommunikativen Philosophie zu Herzen genommen, die besagt, dass durch freie Debatten ein Konsens und die Wahrheit erreicht werden können.

Jetzt, etwa 25 Jahre später, lese ich in Berlin Ihre gemeinsam verfasste Erklärung „Grundsätze der Solidarität“ zum Gaza-Krieg mit mehr als nur ein wenig Besorgnis und Alarm. Der Geist der Erklärung ermahnt im Großen und Ganzen diejenigen in Deutschland, die sich durch Erklärungen oder Proteste gegen Israels unerbittliche Bombardierung des Gazastreifens als Reaktion auf die entsetzlichen Angriffe der Hamas vom 7. Oktober aussprechen. Sie impliziert, dass diese Kritik an Israel nicht tolerierbar ist, weil die Unterstützung des Staates Israel ein grundlegender Teil der deutschen politischen Kultur ist, „für die das jüdische Leben und das Existenzrecht Israels zentrale Elemente sind, die einen besonderen Schutz verdienen“. Das Prinzip des „besonderen Schutzes“ wurzelt in Deutschlands außergewöhnlicher Geschichte, in den „Massenverbrechen der Nazizeit“.

Es ist bewundernswert, dass Sie und die politisch intellektuelle Klasse Ihres Landes die Erinnerung an dieses historische Grauen aufrechterhalten wollen, damit den Juden (und, wie ich annehme und hoffe, auch anderen Völkern) kein ähnliches Grauen widerfährt. Aber Ihre Formulierung von und Ihre Fixierung auf den deutschen Exzeptionalismus lässt praktisch keinen Raum für Gespräche über Israels Politik und die Rechte der Palästinenser. Wenn Sie Kritik an „Israels Aktionen“ mit „antisemitischen Reaktionen“ verwechseln, ermutigen Sie zum Schweigen und ersticken die Debatte.

Als Akademiker bin ich fassungslos, dass an deutschen Universitäten - selbst in den Klassenzimmern, die eigentlich freie Räume für Diskussionen und Untersuchungen sein sollten - fast alle schweigen, wenn das Thema Palästina zur Sprache kommt. In den Zeitungen, im Radio und im Fernsehen gibt es fast keine offene und sinnvolle Debatte zu diesem Thema. Zahlreiche Menschen, darunter auch Juden, die zu einem Waffenstillstand aufgerufen haben, wurden von ihren Posten entlassen, ihre Veranstaltungen und Auszeichnungen wurden gestrichen und sie wurden des „Antisemitismus“ beschuldigt. Wie sollen die Menschen darüber nachdenken, was richtig und was falsch ist, wenn sie nicht frei sprechen dürfen? Was passiert mit Ihrer gefeierten Idee von „Öffentlichkeit“, „rationalem Dialog“ und „deliberativer Demokratie“?

Tatsache ist, dass die meisten der Kritiker und Demonstranten, die Sie anprangern, niemals das Prinzip des Schutzes jüdischen Lebens in Frage stellen - und bitte verwechseln Sie diese rationalen Kritiker der israelischen Regierung nicht mit den schändlichen Neonazis oder anderen Antisemiten, die energisch verurteilt und bekämpft werden müssen. In fast jeder Erklärung, die ich gelesen habe, werden sowohl die Gräueltaten der Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung als auch der Antisemitismus verurteilt. Diese Kritiker bestreiten nicht den Schutz des jüdischen Lebens oder das Existenzrecht Israels. Sie bestreiten die Verweigerung palästinensischen Lebens und das Existenzrecht Palästinas. Und das ist etwas, worüber Ihre Erklärung tragischerweise schweigt.

Es gibt in Ihrer Stellungnahme keinen einzigen Hinweis auf Israel als Besatzungsmacht oder auf Gaza als Freiluftgefängnis. Es gibt nichts über diese perverse Ungleichheit. Ganz zu schweigen von der alltäglichen Auslöschung des palästinensischen Lebens im besetzten Westjordanland und in Ostjerusalem. „Israels Aktionen“, die Sie für „prinzipiell gerechtfertigt“ halten, haben dazu geführt, dass innerhalb von sechs Tagen 6.000 Bomben auf eine wehrlose Bevölkerung abgeworfen wurden, weit über 15.000 Tote (70 % davon Frauen und Kinder), 35.000 Verletzte, 7.000 Vermisste und 1,7 Millionen Vertriebene zu beklagen sind - ganz zu schweigen von der Grausamkeit, der Bevölkerung Nahrung, Wasser, Unterkunft, Sicherheit und ein Mindestmaß an Würde zu verweigern. Die wichtigsten Infrastrukturen des Lebens sind verschwunden.

Auch wenn es sich dabei, wie Sie schreiben, technisch gesehen nicht um „völkermörderische Absichten“ handeln mag, haben Vertreter der Vereinten Nationen unmissverständlich von „Kriegsverbrechen“, „Zwangsvertreibung“ und „ethnischer Säuberung“ gesprochen. Mir geht es hier nicht darum, wie „Israels Handlungen“ aus rechtlicher Sicht zu beurteilen sind, sondern darum, wie man diese moralische Kälte und Gleichgültigkeit ergründen kann, die Sie angesichts einer solch erschütternden Verwüstung an den Tag legen. Wie viele Menschenleben müssen noch gelöscht werden, bevor sie der Aufmerksamkeit würdig sind? Welche Bedeutung hat schließlich die „Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde“, die Sie in Ihrer Erklärung nachdrücklich unterstreichen? Es scheint, als befürchteten Sie, dass das Sprechen über das Leiden der Palästinenser Ihr moralisches Engagement für jüdisches Leben schmälern würde. Wenn dem so ist, dann ist es tragisch, dass die Wiedergutmachung eines kolossalen Unrechts, das in der Vergangenheit begangen wurde, mit der Fortführung eines anderen monströsen Unrechts in der Gegenwart verbunden ist.

Ich fürchte, dass dieser verdrehte moralische Kompass mit der Logik des deutschen Exzeptionalismus zusammenhängt, den Sie vertreten. Denn der Exzeptionalismus lässt per definitionem nicht einen universellen Standard zu, sondern unterschiedliche Standards. Einige Menschen werden zu würdigeren Menschen, andere zu weniger würdigen und wieder andere zu unwürdigen. Diese Logik schaltet den rationalen Dialog aus und desensibilisiert das moralische Bewusstsein; sie errichtet eine kognitive Blockade, die uns daran hindert, das Leiden anderer zu sehen, und die Empathie verhindert.

Aber nicht jeder erliegt dieser kognitiven Blockade und moralischen Abstumpfung. Meines Wissens vertreten viele junge Deutsche privat ganz andere Ansichten zum israelisch-palästinensischen Konflikt als die politische Klasse des Landes. Einige nehmen sogar an öffentlichen Protesten teil. Die junge Generation ist alternativen Medien und Wissensquellen ausgesetzt und durchläuft andere kognitive Prozesse als die ältere Generation. Doch die meisten von ihnen schweigen in der Öffentlichkeit aus Angst vor Repressalien.

Es scheint, als ob eine Art „verborgene Sphäre“ entsteht, ironischerweise im demokratischen Deutschland, ähnlich wie in Osteuropa vor 1989 oder unter despotischer Herrschaft im heutigen Nahen Osten. Wenn öffentliche Meinungsäußerungen durch Einschüchterung unterbunden werden, neigen die Menschen dazu, ihre eigenen, alternativen Erzählungen über wichtige gesellschaftliche Angelegenheiten im Privaten zu schmieden, auch wenn sie sich in der Öffentlichkeit den offiziell sanktionierten Ansichten anschließen. Eine solche verborgene Sphäre kann explodieren, wenn sich die Gelegenheit ergibt.

Es sind beunruhigende Zeiten, Professor Habermas. Gerade in solchen Zeiten werden die Weisheit, das Wissen und vor allem die Zivilcourage von Denkern wie Ihnen am meisten gebraucht. Ihre bahnbrechenden Ideen über Wahrheit und kommunikatives Handeln, Kosmopolitismus, gleichberechtigte Bürgerschaft, deliberative Demokratie und Menschenwürde sind nach wie vor immens wichtig. Ihr Eurozentrismus, Ihr deutscher Exzeptionalismus und die Schließung der freien Debatte über Israel und Palästina, zu der Sie beitragen, scheinen diesen Ideen jedoch zu widersprechen.

Ich fürchte, dass bloßes Wissen und Bewusstsein nicht ausreichen könnten. Denn wie kann ein Intellektueller „wissen“, ohne zu „verstehen“, und verstehen, ohne zu „fühlen“, wie Antonio Gramsci fragte? Nur wenn wir durch Empathie das Leiden des anderen „fühlen“, könnte es Hoffnung für unsere geplagte Welt geben.

Erinnern wir uns an die Worte des persischen Dichters Saadi Shirazi aus dem 13. Jahrhundert:

Die Menschen sind Glieder eines Ganzen,
in der Schöpfung von einem Wesen und einer Seele.
Wenn ein Glied mit Schmerz behaftet ist,
bleiben andere Glieder unruhig.
Wenn du kein Mitgefühl für den menschlichen Schmerz hast,
kannst du den Namen „Mensch“ nicht beibehalten!

Hochachtungsvoll,

Asef Bayat

8. Dezember 2023

In Ermangelung eines Napoleon, „Seele der Welt“, „Geist zu Pferde“,  musste der „Hegel der Bundesrepublik“ Jürgen Habermas, der 60 Jahre lang Mitglied der SPD war, auf Dominique Strauss-Kahn zurückgreifen, dessen „Club de réflexion européen“ er leitete, bevor er sich für Emmanuel Macron begeisterte, den er 2017 als „außergewöhnliche“, „faszinierende“ und sogar „schillernde“ Persönlichkeit feierte. Elend der Frankfurter Philosophie...

 

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