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05/06/2024

60 Jahre seit dem Militärputsch in Brasilien - eine Vergangenheit, die immer präsenter wird

Henrique Magini, flipetropolis, 1/5/2024
Übersetzt von Helga Heidrich, Tlaxcala

Jamil Chade erzählt in Begleitung von Afonso Borges am Tisch von Flipetrópolis (Internationales Literaturfestival von Petrópolis) von bisher geheimen Berichten über die Diktatur in Brasilien.

 

„Wir sind die Erben einer verbrecherischen Vergangenheit.“
Jamil Chade

In seinem ersten Auftritt bei Flipetrópolis präsentierte der Journalist Jamil Chade Dokumente aus den 1970er Jahren über das Militärregime in Brasilien und sagte, als er die Kisten mit dem geheimen Material öffnete, sei er sicher gewesen, dass er nicht in die Vergangenheit, sondern in die Gegenwart Brasiliens blicke.

Aus Dokumenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), zu denen er Zugang hatte, geht hervor, dass das brasilianische Militär in dieser Zeit Mitgliedern der Organisation die Einreise in das Land erschwerte, um schwere Menschenrechtsverletzungen zu beurteilen. Das IKRK ist eine neutrale, unparteiische und unabhängige Organisation, die weltweit tätig ist, um Menschen, die von Konflikten und bewaffneter Gewalt betroffen sind, humanitäre Hilfe zu leisten und Gesetze zum Schutz von Kriegsopfern zu fördern. Seit Jahren hat das Komitee die Militärregierung wiederholt um Zugang zu den Standorten der politischen Gefangenen und Kriegsgefangenen gebeten, um die humanitären Bedingungen dort zu bewerten. Bei jedem Versuch wurden die Ersuchen abgelehnt, was deutlich macht, dass es damals in Brasilien eine bewusste Politik gab, um die Welt zu täuschen.

Jamil wies darauf hin, dass der damalige Justizminister Alfredo Buzaid, in seiner Antwort auf ein Schreiben des Komittes im Juli 1970, erklärte, dass es in Brasilien keine Folter oder Gewalt gebe und dass die brasilianische Regierung der Öffentlichkeit im In- und Ausland alle Beweise vorlegen werde. Es ist erwähnenswert, dass das Komitéé keine Informationen über die Bedingungen in den Gefängnissen preisgibt, sondern zunächst eine Bewertung vornimmt und dann fordert, dass das Land in Fällen von schlechten Bedingungen Maßnahmen ergreift, um die Gefangenen menschenwürdig zu behandeln.

Das Komitee wurde häufig von Kämpfern wie Apôlonio de Carvalho und Ladislau Dowbor aufgesucht und wurde von ihnen als die einzige Organisation angesehen, die in der Lage war, auf die Bedingungen in den Folterstätten einzuwirken. Nachdem das Komitee einige Berichte von freigelassenen Personen gesammelt hatte, erhielt er Zugang zu Material, aus dem hervorging, dass „die angewandte Methode [der Folter] wissenschaftlich ist. Sie beruht auf der dosierten Anwendung von grausamen Leiden innerhalb der genauen Grenzen der menschlichen Belastbarkeit, wenn dies notwendig ist“.

Mit diesem Dokument bat das Komitee den Vatikan um Hilfe bei der Intervention. Ebenfalls ohne Erfolg. „Der Papst erreicht nichts“, betonte Jamil.

11/09/2021

Folter: Was Guantánamo aus ihnen machte

 

Im Kampf gegen den Terror sollte Mister X den Gefangenen Mohamedou Slahi brechen. Er folterte ihn – und ging selbst daran kaputt. Nun haben die beiden wieder miteinander gesprochen.

Bastian Berbner und John Goetz, DIE ZEIT Nr. 36/2021, 2.9. 2021

Mister X (links) folterte immer nachts. Mohamedou Slahi war der Gefangene 760 – der wichtigste Häftling im Lager. © Balazs Gardi für DIE ZEIT (links); Daouda Corera für DIE ZEIT (rechts)

Der Mann, der sich in Guantánamo "Mister X" nannte, trug, wenn er folterte, eine Sturmmaske und eine verspiegelte Sonnenbrille. Der Mensch, den er quälte, sollte sein Gesicht nicht sehen. Jetzt, 17 Jahre später, steht Mister X in seiner Garage in Irgendwo, Amerika, an einer Töpferscheibe. Ein Mann mit Glatze und ergrauendem Bart, am Nacken tätowiert. Seine Hände, groß und stark, formen einen graubraunen Klumpen Ton. Das Töpfchen wird nicht besonders schön werden, das sieht man schon. Er sagt, so sei das mit seiner Kunst, er fühle sich eher zu Hässlichem hingezogen.

Mister X hat lange überlegt, ob er Journalisten empfangen und darüber reden will, was damals geschah. Es wäre das erste Mal, dass sich ein Folterer aus Guantánamo öffentlich zu seinen Taten äußert. Dem Treffen an diesem Tag im Oktober 2020 sind zahlreiche Mails vorausgegangen. Jetzt endlich sind wir bei ihm. Ein Interview von mehreren Stunden liegt schon hinter uns, in dem Mister X uns von seiner grausamen Arbeit berichtet hat. Wir haben ihm erzählt, dass auch der Mann, den er damals malträtierte, gern mit ihm sprechen würde. Mister X hat geantwortet, einerseits habe er ein solches Gespräch 17 Jahre lang herbeigesehnt – andererseits habe er es 17 Jahre lang gefürchtet. Er hat um eine halbe Stunde Bedenkzeit gebeten. Beim Töpfern könne er gut denken.

Der Mann, der gern mit ihm sprechen möchte, heißt Mohamedou Ould Slahi und galt im Sommer 2003 als wichtigster Gefangener im Lager Guantánamo Bay. Von den knapp 800 Häftlingen dort wurde, nach allem, was bekannt ist, niemand so heftig gefoltert wie er.

Es gibt Ereignisse, die bestimmen eine Biografie. Die entfalten, auch wenn sie gemessen an der Lebenszeit gar nicht so lange andauern, in diesem Fall knapp acht Wochen, eine Kraft, die alles Davor in Vergessenheit geraten lassen und alles Danach in ihren Bann ziehen.

Damals, im Sommer 2003, war Mister X Mitte dreißig und Verhörer in der amerikanischen Armee. Er gehörte zum sogenannten Special Projects Team, dessen Aufgabe es war, Slahi zu brechen. Der Häftling hatte bisher hartnäckig geschwiegen, die Geheimdienste waren aber überzeugt, dass er wichtige Informationen besaß. Vielleicht sogar solche, die den nächsten Großanschlag verhindern oder zu Osama bin Laden führen könnten, der damals der meistgesuchte Terrorist der Welt war: der Anführer von Al-Kaida, der Hauptverantwortliche der Anschläge vom 11. September 2001.

Die Mission des Teams war es, das Böse zu besiegen. Um das zu erreichen, setzte es ihm ein anderes Böses entgegen.

Mister X folterte immer nachts. Mit jeder Nacht, die Slahis Schweigen andauerte, probierte er eine neue Grausamkeit aus. Er sagt, Folter sei letztlich ein kreativer Prozess. Wenn man Mister X zuhört, wie er schildert, was er getan hat, kann einem der Atem stocken, und manchmal scheint es Mister X beim Erzählen selbst so zu gehen. Dann schüttelt er den Kopf. Hält inne. Fährt sich durch den Bart. Kämpft Tränen zurück. Er sagt: "Mann, ich kann das selbst nicht glauben."

So wie er spricht, hat man nicht den Eindruck, dass das alles lange her ist. Tatsächlich ist es auch gar nicht zu Ende. Mister X sagt, es gebe kaum einen Tag, an dem er nicht über Slahi nachdenke oder an dem dieser ihn nicht im Traum heimsuche. Slahi war der Fall seines Lebens, im schlimmsten aller Sinne. 

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