Übersetzt von Fausto Giudice, Tlaxcala
Bundeskanzler Olaf Scholz sagte am vergangenen Donnerstag, dass „das Leid und die Not der Zivilbevölkerung im Gazastreifen nur noch zunehmen werden. Dafür ist auch die Hamas verantwortlich.“ Aber gibt es eine Grenze für diese Zunahme des Leids, wenn man bedenkt, dass Sie und Ihre Kollegen im Westen Israel uneingeschränkt unterstützen?
Das Brandenburger Tor wurde am 7. Oktober in den Farben der israelischen Flagge beleuchtet. Foto: Fabian Sommer /AP
Werden Sie es hinnehmen, dass 2.000 palästinensische Kinder getötet werden? Sind 80.000 ältere Menschen, die an Dehydrierung sterben könnten, weil es in Gaza kein Wasser gibt, in Ihren Augen eine legitime Zunahme des Leidens?
Sie sagten auch: „Unsere eigene Geschichte, unsere aus dem Holocaust erwachsende Verantwortung macht es uns zur immerwährenden Aufgabe, für die Existenz und für die Sicherheit des Staates Israel einzustehen. Diese Verantwortung leitet uns.“ Aber Scholz, es gibt einen Widerspruch zwischen diesem Satz und dem oben zitierten.
„Leid ... wird nur zunehmen“ ist ein Blankoscheck für ein verwundetes, verletztes Israel, um hemmungslos zu pulverisieren und zu zerstören und zu töten, und riskiert, uns alle in einen regionalen Krieg, wenn nicht sogar in einen dritten Weltkrieg zu verwickeln, der auch Israels Sicherheit und Existenz gefährden würde. Aber „Verantwortung aus dem Holocaust“ bedeutet, alles zu tun, um einen Krieg zu verhindern, der zu Katastrophen führt, die wiederum zu Kriegen führen, die das Leid in einem endlosen Kreislauf vergrößern.
Ich habe dies von meinem Vater gelernt, einem Überlebenden der deutschen Viehwaggons. Schon 1992 sagte er mir jedes Mal, wenn ich aus dem Gazastreifen mit Berichten über die Unterdrückung der Bewohner durch Israel zurückkam: „Es ist zwar kein Völkermord, wie wir ihn erlebt haben, aber für uns war er nach fünf oder sechs Jahren vorbei. Für die Palästinenser geht das Leiden weiter und weiter, seit Jahrzehnten. Es ist eine andauernde Nakba“.
Ihr Deutschen habt eure Verantwortung, die „aus dem Holocaust“ - also aus der Ermordung u.a. der Familien meiner Eltern und dem Leid der Überlebenden - erwächst, längst abgetreten. Sie haben sie verraten durch Ihre vorbehaltlose Unterstützung eines Israels, das besetzt, kolonisiert, den Menschen das Wasser wegnimmt, Land stiehlt, zwei Millionen Menschen im Gazastreifen in einem überfüllten Käfig gefangen hält, Häuser abreißt, ganze Gemeinden aus ihren Häusern vertreibt und die Gewalt der Siedler fördert.
Und all dies geschah unter der Schirmherrschaft eines so genannten Friedensabkommens, das Sie und andere westliche Staats- und Regierungschefs befürwortet haben. Sie haben zugelassen, dass Israel diesem Abkommen in seiner europäischen Auslegung zuwiderhandelt - als Weg zur Errichtung eines palästinensischen Staates in den 1967 von Israel besetzten Gebieten, den viele Palästinenser gerade deshalb unterstützten, weil sie weiteres Leid und Blutvergießen verhindern wollten.
Es gibt keinen Mangel an Diplomaten und Mitarbeitern von Entwicklungsorganisationen, die darüber berichtet haben, wie Hunderttausende junger Palästinenser unter Israels arroganter Unterdrückung und dem Töten von Zivilisten - manchmal tropfenweise, manchmal wellenweise - jede Hoffnung und jeden Sinn für ihr Leben verloren haben. Palästinensische Menschenrechtsaktivisten haben immer wieder davor gewarnt, dass Israels Politik nur zu einer Eruption unvorstellbaren Ausmaßes führen kann. Auch israelische und jüdische Anti-Besatzungs-Aktivisten haben Sie gewarnt.
Aber Sie sind auf Ihrem Weg geblieben und haben Israel die Botschaft übermittelt, dass alles in Ordnung sei - dass niemand es bestrafen oder den Israelis durch energische diplomatische und politische Schritte beibringen wird, dass es neben der Besatzung keine Normalität geben kann. Und dann beschuldigen Sie Israels Kritiker des Antisemitismus.
Nein, diese Kolumne ist keine Rechtfertigung für die Mordorgie und den Sadismus, den die bewaffneten Männer der Hamas verübt haben. Sie ist auch keine Rechtfertigung für die schadenfrohe Reaktion einiger Palästinenser und die Weigerung anderer, die in ihrem Namen begangenen Gräueltaten anzusprechen.
Vielmehr ist es ein Aufruf an Sie, die gegenwärtige Kampagne von Tod und Zerstörung zu stoppen, bevor sie eine weitere Katastrophe über Millionen von Israelis, Palästinensern, Libanesen und vielleicht sogar Bewohnern anderer Länder in der Region bringt.