Warum endlich Schluss sein muss mit einer Symbolpolitik, die vom Kampf gegen Hass und reale Straftaten ablenkt
Ein Gastbeitrag von Eva Menasse , Die Zeit Nr. 5/2022, 27/1/2022
Die Schriftstellerin Eva Menasse © Andreas Arnold/dpa
Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, ist eine der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen. Für ihren aktuellen Roman "Dunkelblum" erhielt sie 2021 den Bruno-Kreisky-Preis. Sie lebt in Berlin.
Die deutsche Antisemitismus-Debatte ist voller Aufgeregter, die einander in Symbolpolitik überbieten. Alle anderen – die durchaus dafür sensibilisierte Öffentlichkeit ebenso wie ganz normale Juden, die keine Funktionsträger oder Meinungsführer sind – haben sich längst frustriert abgewandt. Vielleicht hat den einen oder anderen selbst schon die Antisemitismus-Keule getroffen, das kann auch Juden passieren. Die Symbolpolitiker sind, während sie durch die Arena fegen, nicht sehr behutsam.
Gibt es (kruden, brutalen, lebensgefährlichen) Antisemitismus? Ja, und nicht zu knapp. Er ist, wie aller Hass, dank der asozialen Medien exponentiell gewachsen. Wären wir nicht so zugedröhnt von datenklauenden Gratis-Apps, müssten wir uns fragen, warum wir einen Ausbruch von physischer und psychischer Gewalt hinnehmen, wie er seit dem Schwarzpulver nicht von einer Erfindung allein verursacht worden ist. Neben Digitalkartellen profitieren vor allem Personenschützer: Von Lokalpolitikern über Universitätsprofessoren bis zu Kabarettisten und Virologen wächst rasant die Gruppe von Menschen, die sich von Gunmen begleiten lassen und ihre Adressen geheim halten müssen.
Aber nicht nur der vervielfältigte Hass (der direkt zu Verbrechen wie in Kassel, Hanau, Halle führt) explodiert uns unter der Hand, sondern auch ein völlig irregegangener Moralismus aus ähnlich trüb-digitalen Quellen. Kleine Gruppen von rigorosen Einpeitschern haben den Diskurs in weiten Teilen unter ihre Kontrolle gebracht und ihr Publikum infiziert, das nun selbst im Namen von hehren Begriffen wie "Gleichberechtigung", "Diversität" oder eben "Kampf gegen Antisemitismus" ein maßloses, unversöhnliches und bedrohliches Verhalten an den Tag legt. Zu ihnen gehört das "Kasseler Bündnis gegen Antisemitismus", das den angeblichen Documenta-Skandal um vermeintlich antisemitische Haltungen unter zur Documenta eingeladenen Künstlern losgetreten hat. Dessen "Recherchen" wurden von Qualitätsmedien wie der ZEIT übernommen und breit diskutiert (ZEIT Nr. 3/22). Da es gegen Antisemiten geht, wird’s schon ungefähr stimmen, oder?
Schauen wir uns die Mannschaft der hiesigen Priester gegen den Antisemitismus an. Sie ist in den letzten Jahren so angewachsen wie die Chanukkaleuchter im öffentlichen Raum, und sie ist zumindest politisch vorbildlich divers. Die Spieler reichen von weit rechts, der islamophoben Springer-Presse mit ihrer Redaktionspräambel, die Israel und "die Juden" so unsauber vermischt, über das FAZ-Feuilleton, das sich im Inquisitorenton offenbar noch immer vom Historikerstreit der Achtzigerjahre reinzuwaschen versucht, weiter über furiose Linke und Ex-Linke in ZEIT, taz, Spiegel (die alle so wohl deutsche Schuld abtragen wollen) bis zu den über viele Online-Redaktionen verteilten sogenannten Antideutschen (etwa "Perlentaucher" und "Ruhrbarone" – Letztere machen Witze über die Vernichtung von Gaza). Das sind ehemals radikale Linke, die, anfangs im ehrenwerten Dissens mit linkem Antisemitismus/Antiimperialismus, seit der Wiedervereinigung "deutschen Nationalismus" ablehnen – zugunsten einer blinden Verehrung des israelischen. Sie alle geißeln mit schärfsten Worten Antisemitismus, wo sie ihn entdecken, also fast überall.
Nun hat Deutschland aufgrund seiner Geschichte zweifellos eine besondere Verpflichtung. Diese verlangt aber wohl auch, die Vernunft zu wahren und alle Seiten zu hören. Das ist nicht der Fall. Es klingt wie ein Witz, ist aber wahr: Die israelische Presse ist vielfältiger, die amerikanische sowieso. Jüdische Stimmen, die die israelische Siedlungs- oder Besatzungspolitik kritisieren, werden in Deutschland sofort diffamiert ("jüdischer Selbsthass", "bekannter Antizionist", "nicht jüdisch genug"). Ebenso wenig wird – außer auf sachlichen Außenpolitik-Seiten – das erbärmliche Leid der Palästinenser thematisiert. Als jüdische und israelische Schriftsteller in Köln eine Anthologie (unter anderem mit Texten von Michael Chabon, Assaf Gavron, Arnon Grünberg) über das Leben unter israelischer Besatzung vorstellten, verteilten empörte deutsche Aktivisten Flugblätter gegen diese "antisemitische und antizionistische Veranstaltung". Da läuft doch irgendetwas schief.
Beim Kampf gegen strafrechtlich relevanten Antisemitismus hingegen bringt Deutschland bisher kaum den politischen Willen auf, den Herbert Reul, Innenminister von NRW, gegen Kinderpornografie so eindrucksvoll bewies: ordentliche Polizeiarbeit, entschlossene Strafverfolgung, schnelle Prozesse. Kein antisemitischer Blogger, keine judenfeindliche Gruppe auf Telegram dürfte sich sicher fühlen. Und eine Staatsanwaltschaft wie in Cottbus, die trotz Anzeigen monatelang nichts gegen einen Hetzer wie Attila Hildmann unternimmt, müsste ausgetauscht werden.
Die BDS-Bewegung ist für die deutsche Debatte irrelevant
Die Energie spart man lieber für einen Kulturkampf voller Leidenschaft und Provinzialität. Als im März 2021 die von Gelehrten aus verschiedenen Ländern erarbeitete "Jerusalemer Erklärung" mit ihrer Neudefinition von Antisemitismus vorgestellt wurde (sie möchte ihn präziser von legitimer politischer Kritik unterscheiden), verspottete ein deutscher Chef-Feuilletonist die dreieinhalb hiesigen Unterzeichner – die illustre, international renommierte Riege der Verfasser schien er gar nicht zu kennen. Es gibt hier keifende Kommentatoren, die noch nie in den besetzten Gebieten waren und dort auch nicht hinwollen (vor Jahren versuchten die deutsch-jüdische Menschenrechtsaktivistin Nirit Sommerfeld und ich vergeblich, eine Art Bildungsreise für die wichtigsten Feuilletons zu organisieren) und die von der Bandbreite der internationalen Diskussion keine Ahnung haben. Sie hätten wohl schlaflose Nächte, wenn sie erführen, dass Trump und seine evangelikalen Christen Finanziers der radikalen Siedlerbewegung sind oder dass 25 Prozent der US-amerikanischen Juden Israel für einen "Apartheidstaat" halten – die US-Juden müssen nicht recht haben, es würde aber die deutsche Hysterie rund um den Begriff "Apartheid" ein wenig auf den Boden holen, nicht wahr? Oder wenn sie wüssten, dass die meisten moderaten Palästinenser mit der BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions) sympathisieren, denn die weniger moderaten sind halt für Hamas.
Zu unguter Letzt gibt es die Antisemitismusbeauftragten, Symbolpolitiker schlechthin. Einer fordert, Jiddisch als Minderheitensprache anzuerkennen (Anzahl der Sprecher tendiert gegen null), und beschimpft auf Twitter seine jüdischen Gegner (täte er es zumindest auf Jiddisch!), ein zweiter postet Fotos von sich in israelischer Polizeiuniform, ein dritter erstellt lange Listen angeblich antisemitisch kontaminierter Straßennamen in Berlin und hat dafür vom Intendanten der Komischen Oper, Barrie Kosky, den verdienten Spott kassiert. Aber wird ihn das abhalten, den Olof-Palme-Platz und die Fontanestraße umzubenennen? Ein vierter schließlich, Bundesbeauftragter der letzten Regierung, hat sich mit einem typisch deutschen Krampf-Satz unsterblich gemacht: "Politisch eher links stehende Israelis" mögen doch bitte "eine gewisse Sensibilität für die historische deutsche Verantwortung haben".
In guten Momenten kann ich das fast lustig finden, vor allem den dude in israelischer Uniform. Sogar, dass es die AfD war, die 2019 einen ersten Anti-BDS-Vorschlag im Bundestag einbrachte. Was müssen die anderen erschrocken gewesen sein, als sie von dieser massiven Gefährdung deutscher Moral ausgerechnet durch Beatrix von Storch erfuhren! Ab dann wird die Geschichte leider bitter. Die Mehrheit aus CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen hat nicht bedacht, was sie dann mit ihrer Anti-BDS-Resolution angerichtet hat. Vielmehr hielten sich die Abgeordneten für Helden.
Dieser Popanz von Resolution hat die letzten Reste von Vernunft zerstört; als AfDler wäre ich mit dem Ergebnis zufrieden. Sie ist zwar rechtlich nicht bindend, hat bei Kulturveranstaltern aber wie beabsichtigt Angst und Schrecken ausgelöst. Öffentlich ein Antisemit genannt zu werden, weil ein eingeladener Künstler früher mal für BDS war oder darüber diskutieren will, ist in Deutschland gleichbedeutend mit dem Vorwurf der Kinderschändung. Nein, ich übertreibe nicht. Einer ruft BDS, und alle anderen kreischen, so gerade wieder in Sachen Documenta. Zwar haben sich damals die größten und wichtigsten Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen (Goethe-Institut, Haus der Kulturen der Welt, Moses-Mendelssohn-Zentrum, Wissenschaftskolleg, Zentrum für Antisemitismusforschung, Bundeskulturstiftung und viele mehr) zur "Initiative Weltoffenheit" zusammengeschlossen. So wollten sie vor den Folgen dieser schädlichen, McCarthy-haft schnüffelnden Resolution warnen, die ihre Kulturarbeit enorm verkompliziert, aber keine einzige antisemitische Straftat verhindert. Sie ernteten: Kontaktschuld.
Denn das Feuilleton fiel fast geschlossen über "Weltoffenheit" her und hat – das ist die katastrophalste Folge – damit alle seriösen Experten, die Deutschland ja besitzt und gerade so dringend brauchen würde (Nahost-erfahrene Kulturvermittler, renommierte Antisemitismus- und Rassismusforscher), mit einem Streich aus dem Spiel genommen. Wer an "Weltoffenheit" teilnahm, gilt seither als überführter BDS-Anhänger, man lese es beim "Kasseler Bündnis" nach. Auch deshalb dürfen nun auf mittelalterliche Plastik spezialisierte Kunsthistoriker über Dinge schreiben, von denen sie nichts verstehen. Als Nächstes werden sie in Archiven wühlen. Ich gebe den sardonischen Tipp gern: Man wird dort bestimmt berühmte Künstler mit BDS-Sympathien finden, die schon bei der Documenta ausgestellt haben. Wem ist damit geholfen?
Die BDS-Bewegung, gewiss in Teilen antisemitisch (Zitat Eva Illouz: "Das ist die britische Labour Party auch"), ist für die deutsche Debatte vollkommen irrelevant. Sie fungiert als Hokuspokus, dem man öffentlich abschwören muss, worüber man selig vergessen kann, dass nach allen Kriminalstatistiken mindestens 90 Prozent aller antisemitischen Straftaten von rechtsradikalen deutschen Nazis verübt werden. Straftaten, folks, Angriffe und Körperverletzung, kein Literaturhaus- oder Vernissage-Geplauder! Aber weil deren Verfolgung so viel schmutziger und komplizierter ist, bleibt es beim tugendbesoffenen Raunen. In Berlin wurden gerade neue Plakate vorgestellt, ein Hörsaal ist zu sehen, der Text lautet: "Das ist Antisemitismus – und keine These!" Ja, wir haben sicher noch zu wenig Denunziation und Spaltung an den identitätspolitisch geschüttelten Unis, vielen Dank auch.
In der halbwegs normalen Welt, von der ich manchmal noch träume, diskutieren wie früher Wissenschaftler und Künstler in geschützten Räumen über Kunst und Politik, meinetwegen sogar über BDS, aber dann automatisch auch über die palästinensische Zivilbevölkerung, die täglich von gewalttätigen Siedlern terrorisiert wird, mit denen sich nicht mal Antideutsche verbrüdern würden. Journalisten recherchieren und wägen ab, ungehetzt vom Internet. All das schöne Geld der Antisemitismus-Beauftragten bekommt Herbert Reul als neuer Bundesbeauftragter für digitale und analoge Hassverbrechen. Dann würde endlich das Wichtige vom Unwichtigen getrennt, der Begriff "Antisemitismus" könnte wieder kleiner und präziser, der vom Judentum größer und kultureller gemacht werden. Aber klar, dream on – stattdessen der BDS-Abwehrzauber.
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