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12/04/2023

FAUSTO GIUDICE
Malika wurde im Alter von 8 Jahren von einem französischen Gendarmen getötet: 50 Jahre danach, lebt sie wieder in einem Buch wie ein Faustschlag in den Magen

Fausto Giudice, 11. April 2023
Übersetzung von Helga Heidrich überprüft

I. Präludium

Zugegeben: Meine Generation, die Generation der 68er-Babyboomer, neigt im Allgemeinen dazu, die Generation der Millennials, die Generation ihrer EnkelInnen, herablassend zu betrachten. Oder zumindest ist es so, dass diese und jene oft unsere Veteranenhaltung wahrnehmen.

Ich selbst verurteile nie jemanden, und das hat mich letztendlich viel gekostet. Verrat und Verleumdung sind das allgemeine Los der Menschen, sobald sie eine Gesellschaft bilden. Und ich kann diejenigen meiner jungen FreundInnen, die den Weg der enttechnologisierten Einsiedelei in den Bergen wählen, sehr gut verstehen. Ich habe angefangen, darüber nachzudenken und davon zu träumen, Landgemeinden zu gründen, in denen alle elektronischen oder sogar elektrischen Gegenstände am Eingang unter Bewachung zurückgelassen würden.

Inzwischen verbringe ich zu meiner zunehmenden Verzweiflung einen zu großen Teil meiner verbleibenden Lebenszeit vor meinen Bildschirmen und auf meinen Tastaturen. Vor 25 Jahren haben meine Eingeweide dagegen rebelliert und angefangen zu bluten. Ich habe es geschafft, durch ein unerklärliches Wunder zu überleben. Der Chirurg, der mich das zweite Mal operierte, erzählte mir, dass er, als ich auf dem Operationstisch lag und mein Blutdruck auf null gesunken war, zum Team sagte: „Ich hole mir einen Imbiss, ich denke, wenn ich zurückkomme, wird es mit ihm vorbei sein“. Und wie erstaunt war er, als er bei seiner Rückkehr aus der Kantine feststellte, dass der Itaker noch atmete. Er erklärte mir die medizinische Hypothese, dass meine Blutung im Verdauungstrakt auf das Mallory-Weiss-Syndrom zurückzuführen sei. Das hat mir echt geholfen! Ich antwortete ihm, dass ich meiner Meinung nach eher das Syndrom der virtuellen Revolution auf dem Macintosh hatte. 

Der Schlag, der mir den Rest gegeben hatte, war ein völlig verkorkster Plan einer Gruppe von Idioten aus Marseille, Avignon und Umgebung gewesen, eine „Karawane nach Palästina“ zu machen. Ich fand schnell heraus, dass sie nicht nur abgrundtief ignorant, sondern - das gehört in der Regel dazu - auch furchtbar eingebildet waren. Kurz gesagt: Keine Karawane, weder nach Palästina noch irgendwo anders hin als ins Krankenhaus.

Als ich vor 12 Jahren wieder ins Land zurückkehrte, in dem ich aufgewachsen bin, ohne Fernseher, ohne Computer (den gab es nicht), ohne Handy (das Festnetztelefon meiner Eltern, das in meinem Zimmer stand, klingelte fast nie), erlebte ich einen Schock, eine ganze Reihe von Schocks: In der Medina waren ganze Straßen mit Handwerkern verschwunden, in der Malta-Sghira-Strasse waren alle Schmiedeeisenhandwerker durch Händler ersetzt worden, die schlecht verarbeitete Möbel aus billigem Holz (die Liegestühle, die ich kaufte, hielten kein Jahr) und aus Plastik anboten, und auf dem Zentralmarkt waren die schönen roten Tomaten geschmacklosen orangefarbenen Tomaten aus Hybridsamen made in EU gewichen, die für die EU bestimmt waren. Und acht der zwölf Millionen Einwohner des Landes hatten einen Facebook-Account. Da Telefonabonnements oft mit einem Facebook-Konto gekoppelt sind, kennen viele NutzerInnen (oder Ausgenutzte?) vom Internet nur facebook, wadzapp, youtube, telegram oder jetzt auch tiktok. 

Und es ist überall dasselbe, von Medellín bis Nablus, von Soweto bis Dschebel Lahmar. Ich habe während der Wahlkämpfe, die ich in meinem „Land der Rückkehr“ miterlebt habe, kein einziges Plakat gesehen, das an einer Wand klebte. Keiner der Hunderten von Menschen unter 45 Jahren, die ich in diesen 12 Jahren kennengelernt habe, hat in seinem Leben jemals ein Flugblatt geschrieben und vorbereitet, um es um 5 Uhr morgens an einem Fabriktor oder um 8 Uhr an einem Hochschul-Tor oder um 12 Uhr mittags auf einem Markt oder um 18 Uhr am Ausgang eines Kaufhauses zu verteilen. Kurzum, in wenigen Worten: Wir haben uns vom collé-serré [dicht geklebt, ein Art „schmutziges Tanzen] meiner Jugend zum heutigen copy-paste-post-like-buzz entwickelt. Und die drei Dutzend Giftzwerge, die versuchen, unserem implodierenden Planeten das Gesetz zu diktieren, arbeiten mit Hochdruck (bzw. lassen ihre Haitech-Sklaven schuften) daran, uns nicht mehr zu brauchen, uns also zu vernichten, während sie gleichzeitig ihre Flucht vorbereiten, auf den Mond oder den Mars oder sonst wohin. Vor einigen Jahren gelang es einem genialen Betrüger, Besitzurkunden für Siedlungen auf dem Mond an Israelis zu verkaufen, die spürten, dass das zionistische Projekt endgültig gescheitert war und sie keine andere Wahl hatten, als den Mond zu kolonisieren. Dort waren sie sich zumindest sicher, dass sie sich auf garantiert araberreinem Gebiet befinden würden.

II.                Malika und Malika

Am 5. Juni 2021 erhalte ich eine Mitteilung von Yezid Malika Jennifer: „Guten Abend, Sir. Danke für die Hommage an meine Tante Malika Yezid, die 1973 von Gendarmen getötet wurde [emoji] Guten Abend.“

Am 7. Juni eine zweite Mitteilung:


 „Die Kleine da unten war Malika.

Ich habe Ihr Buch gelesen und als ich den Namen Yezid gesehen habe, der auch mein Name ist, hat mich das im Herzen berührt. Denn diese Geschichte hat meine Familie zerstört. Meine Großmutter hat mir diese Geschichte erzählt. All die (Polizei-)übergriffe, die zerrissenen Familien, es ist schrecklich.  All diese Namen der Opfer: Man darf nie vergessen. Schönen Tag noch“.

 Sie bezog sich auf Folgendes:

 „Am Sonntag, dem 24. Juni, griffen Gendarmen in Fresnes auf der Suche nach einem 14-jährigen algerischen Jungen, der ihnen entwischt war, dessen kleine Schwester an. Malika Yazid spielte im Hof der Übergangswohnsiedlung Les Groux in Fresnes, in der sie lebte. Sie ging in die Wohnung, um ihren Bruder zu warnen. Die Gendarmen stürmten in die Wohnung.

Nachdem einer von ihnen Malika eine Ohrfeige gegeben hatte, schloss er sie in einem Zimmer ein, um sie zu „verhören“. Eine Viertelstunde später kommt Malika aus dem Zimmer und bricht auf dem Boden zusammen. Sie stirbt vier Tage später im Krankenhaus Salpétrière, ohne aus dem Koma erwacht zu sein.“

Dies sind die elf Zeilen, die ich der kleinen Malika widmete, die im Alter von acht Jahren von einem Gendarmen zu Tode geohrfeigt wurde, in diesem schrecklichen Sommer 1973, der härtesten Sequenz der zwei Jahrzehnte der Arabizide, die ich in meinem Buch mit diesem Namen, das 1992 erschien, rekonstruiert habe. Dieses Buch war eine Selbstverständlichkeit gewesen, die sich während der Arbeit an meinem vorherigen Buch, Têtes de Turcs en France, das 1989 als französische Folge von Günter Walraffs Ganz Unten erschienen war und einen gewissen Erfolg hatte (über 25.000 verkaufte Exemplare, damals las man noch auf Papier gedruckte Bücher), herauskristallisiert hatte. Eine schmerzhafte Erkenntnis: Es war unmöglich, auch nur ein einziges Kapitel von Têtes de Turcs (in dem jedes Kapitel ein Beispiel für die Apartheid nach französischem Vorbild beschrieb: Arbeit, Gesundheit, Schule, Wohnung usw.) den damals so genannten „rassistischen Verbrechen“ zu widmen. Es gab einfach zu viele davon. Daher hatte ich beschlossen, ihnen ein eigenes Buch zu widmen. Zwei Jahre lang war das Wohnzimmer meiner Bruchbude in Ménilmontant mit einem langen Brett auf zwei Stühlen abgesperrt, auf dem sich die gelben Aktenmappen nach Fällen und Jahren aufhäuften. Kurz gesagt, ein materielles Vorspiel (Holz, Tinte, Papier) für die Excel-Tabellen der nahen Zukunft.

Am Ende hatte ich 350 Fälle binnen 21 Jahren, das heisst 16,6 pro Jahr, 1,3 pro Monat. Das waaren Peanuts im Vergleich zu den Negriziden in den USA. Aber um Himmels willen, wir sind hier nicht bei den Yankees, wir sind in der Wiege der Menschen- und Bürgerrechte, alle Menschen sind frei und gleich an Rechten geboren usw. usw., die gerade auf den Champs-Élysées mit der Parade von Jean-Paul Goude zum 200. Jahrestag der Großen Revolution mit großem Pomp gefeiert wurden! Ich muss zugeben, dass ich im Laufe dieser zwei Jahre intensiver Ermittlungsarbeit mehr als einmal von Depressionen und Fluchtgedanken geplagt wurde, vielleicht nicht auf den Mond, aber auf jeden Fall weit weg von Madame la France, wie die MaghrebinerInnen sagten (in Anspielung auf den 100-Francs-Schein mit dem Bildnis der halb enthüllten Freiheit, die das Volk anführt).

Die schlimmsten Momente waren die Gerichtsverhandlungen, in denen arme arabische Familien einen zweiten Tod erlebten, der ihnen von der Mehlmäulerfront zugefügt wurde: Richter, Staatsanwälte, Verteidiger und Angeklagte Hand in Hand, und die Geschworenen - wenn es sich um Assisen handelte - völlig sprach- und fassungslos. Ich habe nie gehört, dass ein Geschworener während eines dreitägigen Prozesses auch nur ein Wort gesagt hat. Man fragt sich, wozu diese sog. Volksgeschworenen überhaupt da sind.

Malikas Familie musste das nicht durchmachen: Der Fall wurde schnell zu den Akten gelegt. Aber auch sonst blieb ihr nichts erspart. Jennifer Malika Fatima ist eine der beiden einzigen Überlebenden der Familie, die durch Hogra (Verachtung, Herabstezung), Drogen, Kriminalität und hinter all dem die Übergangssiedlung dezimiert wurde. Die Übergangssiedlung Les Groux in Fresnes, nur einen Steinwurf vom Knast entfernt („praktisch“, wie ihr Onkel Nacer, der einzige andere Überlebende, feststellt, der ihn gekostet hat), ein Provisorium, das sich in die Ewigkeit zog. Nach dem Selbstmord ihrer Mutter wurde sie zusammen mit ihrer Großmutter ihrem Schicksal überlassen und mit 18 Monaten in eine vollblutgallische Pflegefamilie gesteckt. Dort blieb sie 30 Jahre lang und entkam schließlich ihrem Schicksal, nachdem sie an allen üblichen Gefahren vorbeigeschrammt war, die auf Kinder aus rassisierten gefährlichen Klassen lauern.

Und nun kommt am 7. April IHR BUCH heraus! Ein wahres Ereignis! Ich will es nicht verderben, sondern nur so viel sagen: Dieses Buch ist bis heute die beste mir bekannte Erfüllung des Wunsches, den ich mir bei der Veröffentlichung meines eigenen Buches Arabicides gemacht hatte. Ich war mit dem Endergebnis meiner Arbeit nicht zufrieden, ich träumte von Truman Capotes Kaltblütig, der jahrelang mit zwei jungen Mördern in ihrem Todestrakt verkehrt hatte und daraus ein Meisterwerk herausgebracht hatte. Und ich hätte gerne Täter von Arabziden und ihre Angehörigen ausgequetscht, aber ich fand keine. Aber gut, ich war nicht Truman Capote, La Découverte war kein großes New Yorker Haus, das Detektive bezahlen konnte, ich war nur ein obskurer, „islamolinksradikaler“ Journalist, Italiener („Ach! Sie sprechen aber gut Französisch“ – „Du sagts es, Du Arsch, Französisch ist unsere Kriegsbeute“), herausgegeben von einem Verlag mit glorreicher Vergangenheit (François Maspero), aber kritischer Gegenwart (er sollte später von einem multinationalen Konzern aufgekauft werden), kurzum, ich hatte mir gesagt, dass meine Arbeit ein Mindestdienst an den künftigen Generationen sei, die diese Geschichte hinterfragen und darin graben wollen würden.

Dreißig bis fünfzig Jahre später ist genau das passiert. Es sind immer die dritten Generationen, die die Vergangenheit aus der Versenkung holen: Das gilt für die Armenier, die europäischen Juden und alle anderen. Es ist die Generation der Enkelkinder der Opfer massiver, konzentrierter oder verdünnter staatlicher Verbrechen, die die kollektiven traumatischen Erfahrungen wiederbelebt und an die nachfolgenden Generationen weitergibt. Jennifer Malika Fatimas Buch ist meines Wissens das erste dieser Art, das auf den Erinnerungen, Gesprächen und unglaublichen Archiven beruht, die ihre Großmutter, eine (angeblich) analphabetische Kabylin, sorgfältig aufbewahrt und geordnet hat.

Es ist keine akademisch formatierte Doktorarbeit, die für den Durschschnittmenschen in der Regel unlesbar ist, wenn sie ihm überhaupt zugänglich ist. Es ist ein Schlag, den man in den Magen bekommt. Sobald ich es erhielt, schluckte ich es mit Haut und Haaren und war nach zwei Stunden fertig. Dann flüchtete ich mich groggy in ein Wiederkäuen für einige Wochen. Zeit, um zu verdauen. Dies ist das Ergebnis meiner Verdauung, da ich mir vorgenommen hatte, diese unkonventionelle Buchbesprechung zum Erscheinen des Buches am 7. April zu veröffentlichen.

Das Buch, bei dem Jennifer Malika Fatima von der Schriftstellerin Asya Djoulaït bei der Formatierung des Manuskripts und dem Historiker Sami Ouchane bei der Präsentation der Dokumente aus den Archiven - die nicht versucht haben, ihr eine akademische Formatierung aufzuzwingen - auf schwesterliche/bruderschaftliche und respektvolle Weise unterstützt wurde, ist wunderbar mit einem Nachwort der lieben Rachida Brahim versehen, einem weiteren leuchtenden Sternchen der neuen Generationen, zu denen ich mir gesagt hatte, dass mein Buch sprechen könnte. Das Buch wurde sorgfältig und vorbildlich von einem jungen feministischen Verlag in Marseille herausgegeben, Hors d'atteinte [Ausser Reichweite], den ich mit Begeisterung entdeckt habe und dessen Katalog meine Speicheldrüsen so sehr durcheinander gebracht hat, dass ich morgen einen Termin bei meinem Zahnarzt habe, um eine Mukozele entfernen zu lassen.

Bravo, meine Damen, Sie haben mich endgültig von jeder Versuchung zur Herablassung geheilt. Ich glaube, wir gehören derselben Spezies an: der Spezies der Menschen, die nicht wissen, wovon man redet, wenn man sagt: Renten. Ich möchte mit dem Satz Nietzsches schließen, der mein Buch beendete: „Der Mensch des langen Gedächtnisses ist der Mensch der Zukunft“.

Zögert also nicht und eilt zu Eurer örtlichen Buchhandlung (vergisst bitte Amazonzon*!) und bestellt das Buch, wenn Ihr Französisch lesen könnt (es wird von Harmonia Mundi vertrieben). Wenn nicht, werdet Ihr auf eine deutsche Fassung warten müssen. Wir arbeiten daran. Interessierte Verlage können sich an tlaxint[at]gmail.com  wenden.

 

Papier Großformat 15€ - Elektronisch 11,99€

Anmerkung

*Zonzon ist ein altes französisches Wort, das Summen bedeutet, aber in der französischen Umgangssprache als Substantiv Knast (durch Apherese von prison) und als Adjektiv meschugge bedeutet. Und tasächlich ist das Imperium von Jeff Bezos ein summender Knast.