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14/05/2014

ALEX COCOTAS
Wie deutsch ist es nicht: die zeremonielle Aufführung des Jüdischseins in Deutschland


Alex Cocotas , The Baffler, 9.5.2024
von Fausto Giudice, Tlaxcala, übersetzt

Alex Cocotas ist ein Schriftsteller aus Kalifornien, der in Berlin lebt.

Nach dem 7. Oktober haben deutsche Politiker vorgeschlagen, deutschen Staatsbürgern die Staatsangehörigkeit zu entziehen, die Bürgerrechte von Nicht-EU-Ausländern einzuschränken und die Zahl der Kinder mit Migrationshintergrund, die eine bestimmte Schule besuchen dürfen, zu begrenzen. Dies wurde als Mittel zur Erhaltung und Förderung des „jüdischen Lebens“ im Land propagiert. Ein deutscher Politiker, dem glaubhaft vorgeworfen wird, in seiner Jugend Neonazi-Sympathien gehegt zu haben, machte die Einwanderung für den Antisemitismus im Land verantwortlich. Deutschlands größte Zeitung veröffentlichte ein fünfzig Punkte umfassendes Manifest darüber, was es bedeutet, deutsch zu sein; Nummer siebenundvierzig lautet: „Deutschland hat ein Herz für Kinder. Sie werden nicht geschlagen, ­sondern gefördert.[Deutschland, wir haben ein Problem!, Bild, 29.10.2023, gleichzeitig auf Deutsch, Englisch, Arabisch, Türkisch und Russisch veröffentlicht]. Ein prominenter deutscher Journalist veröffentlichte einen Artikel mit dem Titel: Die Juden oder die Aggro-Araber: Wir müssen uns entscheiden, wen wir halten wollen“. Der baden-württembergische Antisemitismusbeauftragte, der kein Jude ist, schrieb: „Schon mehrfach habe ich darüber gesprochen & geschrieben, dass die #Nazis ihre Massenmorde noch versteckten - die #Hamas diese aber wie zuvor #Daesh medial zelebriert“.

In Deutschland ist nicht alles so, wie es scheint. Dieser Baum? Er war einmal ein Jude. Dieses Gebäude war einmal ein Jude. Die Straßenlaterne war ein Jude. Und die Juden? Das sind wohl alles Deutsche.

 Im Jahr 2021 veröffentlichte der Schriftsteller Fabian Wolff in Die Zeit einen langen Essay mit dem Titel „Nur in Deutschland“. Es ist ein Paradebeispiel für ein immer beliebter werdendes Essay-Genre, das er im zweiten Absatz ausbuchstabiert: „Ich bin Jude in Deutschland“.

Ich mag es nicht, diesen Text auf Deutsch zu schreiben, manchmal empfinde ich Deutsch an sich als Belastung“, beginnt der Essay. Wolffs Familiengeschichte hat ihm „den berühmten gepackten Koffer unterm Bett“ beschert, schreibt er. „Warum ist in Deutschland alles so deutsch?“, fragt er sich. Der größte Teil des Essays ist dem Angriff auf die herablassende Gewissheit der deutschen Haltung gegenüber Juden gewidmet, mit besonderem Augenmerk auf eine von der Regierung geführte Kampagne, die jede Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichsetzt. Diese Kampagne nahm 2019 ihren Lauf, als die deutsche Regierung die „Methoden und Argumentationsmuster“ der Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS) als antisemitisch bezeichnete. Wie Wolff in einem Fall nach dem anderen aufzeigt, reicht schon der Vorwurf des Antisemitismus aus, um in Deutschland aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen zu werden. Viele derjenigen, die von Deutschlands fleißigen nichtjüdischen Beamten beschuldigt werden, sind selbst Juden.

Wolff schließt den Essay mit einem Aufruf zu einem pluralistischen Judentum jenseits der deutschen Instrumentalisierung. „Und wenn wir unseren Weg schon nicht selbst wählen können“, schreibt er, , „dann möchte ich wenigstens mit offenen Augen erblicken, wohin uns der Sturm des Fortschritts weht, und nicht, dass mir irgendwelche Goyim die Augen und den Mund zu halten, weil sie sagen, dass sie einfach besser wissen, was gut für mich, für uns ist. Wer weiß, wo sie uns sonst hinbringen“. Der Essay wurde ins Englische übersetzt und Wolff erlangte internationale Bekanntheit. Er schien eine neue Art von deutsch-jüdischem Intellektuellen zu verkörpern: jung, kämpferisch, ironisch, links, fähig, nacheinander Susan Taubes und Trap-Musik zu zitieren. Aber Publicity hat ihre Tücken.

Es scheint kein Jahr zu vergehen, in dem nicht ein Skandal um die Identität eines prominenten deutschen Juden aufgedeckt wird.

Im Juli 2023 veröffentlichte Wolff in der „Zeit“ ein weitschweifiges, ausweichendes mea culpa, das noch mehr Aufsehen erregte als sein „Nur in Deutschland“-Aufsatz [Mein Leben als Sohn]. Man könnte es kurz und bündig so zusammenfassen: Ich bin kein Jude in Deutschland. Wolff offenbart, dass er keine jüdische Abstammung hat. Es war eine Folge von Curb Your Enthusiasm, in der Larry David glaubt, er sei nicht jüdisch, schreibt er, die ihn zunächst dazu brachte, sich nach einer jüdischen Identität zu erkundigen. „Mama, sind wir eigentlich jüdisch?“, fragte er seine Mutter danach. „Na ja, nicht wirklich“, antwortete sie, „aber du weißt ja das mit deiner Großmutter“. Die Großmutter von Wolffs Großmutter mütterlicherseits war angeblich Jüdin, eine Silberkugel der matrilinearen Abstammung über die Umbrüche der europäischen jüdischen Geschichte hinweg. „Plötzlich“, erinnert er sich, „schien alles Mögliche Sinn zu ergeben. Ich wusste einfach, was es bedeutet, jüdisch zu sein“. Wäre die Geschichte wahr, wäre Wolff ethnisch zu einem Sechzehntel jüdisch. Aber die Geschichte war nicht wahr: Wolff ist leider zu sechzehn Teilen Nichtjude.

In den Augen vieler deutscher Kritiker bestand Wolffs größte Sünde darin, unter dem Deckmantel einer jüdischen Identität zu argumentieren, dass die Unterstützung eines Boykotts gegen Israel nicht zwangsläufig antisemitisch sei, obwohl er selbst einen solchen Boykott nicht unterstützte. Wolff wurde daraufhin von Deutschlands größten jüdischen und nichtjüdischen Zeitungen als „Kostümjude“ gegeißelt. Man nannte ihn einen aufstrebenden Kronzeugejuden. Im Gegensatz zu Wolffs Beschwerden über das Deutsche ist dies eine Sprache mit einer erstaunlich flinken Fähigkeit, Neologismen für das Wort Jude zu schaffen:

Alibijude, Berufsjude, Faschingsjude, Großvaterjude, Kostümjude, Kronzeugejude, Meinungsjude, Modejude, Vaterjude, Vorzeigejude.

Mit der möglichen Ausnahme von Vaterjude handelt es sich bei diesen Konstruktionen um pejorative Ausdrücke, die den Anschein erwecken, jüdisch zu sein, oder die jüdische Identität zum eigenen Vorteil ausnutzen. Die Enthüllung von Wolffs erfundener jüdischer Identität ist kein Einzelfall, sondern hat in Deutschland Tradition. Es scheint kein Jahr ohne einen Skandal um die Identität eines prominenten deutschen Juden zu vergehen.

Vor Wolff war der berüchtigtste Fall der von Marie Sophie Hingst, einer bekannten Schriftstellerin und Historikerin. Ihr Blog mit ihren Memoiren hatte Berichten zufolge eine Viertelmillion regelmäßiger Leser. Hingst schrieb, dass ihre Großeltern der Kristallnacht gedachten, indem sie die Uhren anhielten und auf die Rückkehr der verlorenen Verwandten in der hereinbrechenden Dunkelheit warteten. Ihre Großmutter habe für Holocaust-Überlebende sommerliche Gartenpartys mit Kuchen und eindringlichen Reden veranstaltet. Im Jahr 2019 veröffentlichte Der Spiegel einen Artikel, in dem enthüllt wurde, dass Hingst zweiundzwanzig Holocaust-Opfer erfunden und Yad Vashem falsche Unterlagen vorgelegt hatte, um ihre angebliche Identität zu untermauern. Es gab keine jüdische Großmutter, keine jüdische Familie. Kurz nach Bekanntwerden der Enthüllungen nahm sie sich das Leben.

Wolfgang Seibert war fünfzehn Jahre lang Vorsitzender der jüdischen Gemeinde von Pinneberg, einer Kleinstadt in der Nähe von Hamburg. Seibert wurde, wie eine Spiegel-Recherche aus dem Jahr 2018 zeigt, von Eltern ohne jüdisches Erbe protestantisch getauft und hatte, anders als er behauptet, keine Verwandten im Holocaust verloren. Auf die Frage nach seiner Herkunft antwortete Seibert, er habe sich immer jüdisch „gefühlt“. Es gibt noch viele weitere Fälle, in denen es um die Behauptung einer unbegründeten jüdischen Identität geht: Irena Wachendorff, Manfred Böhme, Peter Loth, Karin Mylius, Frank Borner. Und das sind nur die öffentlichen Fälle.

Nicht jeder nimmt eine jüdische Identität an; manche begnügen sich mit dem äußeren Anschein.

Die Fernsehjournalistin Lea Rosh war das öffentliche Gesicht und die lautstärkste Befürworterin der Kampagne zum Bau des Berliner Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Rosh hat eine jüdische Aura kultiviert - eine Scheinbarjüdin, vielleicht. „Ich sehe nicht so arisch aus“, schwärmte sie einmal in einem Interview. Rosh änderte ihren Namen von Edith in Lea und verklagte erfolglos die (jüdische) Autorin Ruth Gay, weil sie schrieb, sie habe dies getan, um jüdischer zu klingen. Einst lehnte sie einen Vorschlag, das Holocaust-Denkmal gegenüber dem Reichstag aufzustellen, vehement ab: „Hat das 'deutsche Volk' die Juden ermordet? Wohl kaum“.

Dann gibt es noch die buchstäblichen Kostümjuden. Ich habe zweimal erlebt, wie große Gruppen von Deutschen Kippot trugen. Einmal bei einer Kundgebung gegen Antisemitismus und einmal, als sie mit einer großen Polizeieskorte die Sonnenallee, das Zentrum des arabischen Lebens in Berlin, entlang marschierten und pro-israelische Slogans skandierten. Wer heute auf dieser Straße ein Schild mit der Aufschrift „Stoppt den Völkermord“ oder „Vom Fluss zum Meer“ in der Hand hält, würde mit Sicherheit verhaftet und möglicherweise strafrechtlich verfolgt werden. Die Polizei unterdrückte in den Wochen nach dem 7. Oktober gewaltsam Demonstrationen und sogar grundlegende Symbole der palästinensischen Identität in der Sonnenallee; ich musste einen Freund, einen prominenten (jüdischen) Journalisten, aus einer solchen Demonstration herausholen, nachdem er mit Pfefferspray besprüht worden war, weil er die brutale Verhaftung eines Mannes gefilmt hatte, dessen Verbrechen darin bestand, eine palästinensische Flagge zu halten. Aber nur wenige hier versuchen, sich eine palästinensische Identität anzueignen.

Vor einigen Jahren war ein Freund von mir zu einem Schabbatessen eingeladen. Die Anwesenden machten alle den Eindruck, als seien sie religiös. Sie kannten die Hymnen, die Männer trugen Kippot, einer hatte sogar Payot [Schläfenlocken]. Die Gastgeber bestanden darauf, dass mein Freund die verschiedenen Segenssprüche rezitierte. Durch eine zufällige Bemerkung während des Essens erfuhr er, dass er der einzige Jude unter den Anwesenden war. Es waren Deutsche, die gerne jüdische Rituale zelebrierten und wollten, dass ein Jude unwissentlich seinen Segen sprach.

Viel mehr Deutsche als Wolff, Hingst und Seibert „fühlen sich jüdisch“. Jüdische Gemeindearchive belegen, dass viele Deutsche nach dem Krieg versucht haben, ihr jüdisches Erbe zu „entdecken“. Jeder scheint hier eine jüdische Tante zu haben. Oder die Großeltern waren im Widerstand. Oder vielleicht war es die Großtante. Andere sind einfach konvertiert. Walter Homolka konvertierte als Jugendlicher zum Judentum und wurde später einer der mächtigsten Rabbiner in Deutschland. Er kontrollierte faktisch die wichtigsten Institutionen, die mit dem nicht-orthodoxen Judentum in Deutschland verbunden sind, und teilte die Bühne mit Angela Merkel und anderen Politikern.

Homolka zögerte nicht, im Namen aller Juden zu sprechen, als er sagte: „Die Shoah ist für meine Generation nicht mehr zentral“.  Nicht einmal sein übermäßiges Interesse an Jesus konnte seine Stellung als herausragende jüdische Autorität schmälern. Sein Niedergang begann 2022, als bekannt wurde, dass seine langjährige Lebensgefährtin einem Kantoratsstudenten 2019 ein Video geschickt hatte, auf dem ein erigierter Penis gestreichelt wurde. Homolka wurde daraufhin vom Zentralrat der Juden in Deutschland wegen Machtmissbrauchs und Diskriminierung angeklagt. Der in dem achthundertseitigen Bericht des Rates über die Affäre als „A.“ bezeichnete Informant sagt aus, dass Homolka ihn einst ermutigt habe, einen Job in Südafrika anzunehmen, wo es „riesige schwarze Schwänze“ gebe.

Homolka ist auch keine Anomalie im deutschen Judentum, in dem Konvertiten (Gerim) eine unverhältnismäßig große Rolle spielen. Im Jahr 2022 verlor eine jüdischstämmige Kantorin, die man auf Deutsch als Biojüdin bezeichnen könnte, ihre Stelle in einer Berliner Synagoge, nachdem sie sich gegen den Einfluss von Konvertiten im deutschen Judentum ausgesprochen hatte. Eine deutsch-jüdische Historikerin, Barbara Steiner, hat ein Buch über das Phänomen und die Geschichte der zum Judentum konvertierten Deutschen geschrieben. Sie stellt fest, was vielleicht nicht überrascht, dass die Hauptmotivation der meisten Konvertiten in der einen oder anderen Form Schuldgefühle sind. An anderer Stelle charakterisiert Steiner Fabian Wolff als Antisemiten, der seine Identität mit dem ausdrücklichen Ziel angenommen hat, Israel zu kritisieren. Auch sie ist eine Konvertitin.

Wolff war nicht der einzige deutsch-jüdische (oder ehemals jüdische) Intellektuelle, der solche Essays schrieb. Er war vielleicht der spektakulärste Vertreter, aber solche quasi-konfessionellen Essays über die Erfahrung des Jüdischseins in Deutschland sind in den letzten zehn Jahren immer häufiger veröffentlicht worden. Die meisten dieser Essays sind im Feuilleton, dem Kulturteil der großen überregionalen Zeitungen des Landes, erschienen, der sich Rezensionen, Kritiken und Essays widmet. Einst das Revier von Heine, Walter Benjamin, Joseph Roth usw., dienen die heutigen Feuilletons dazu, der Intelligenz eines gebildeten Deutschen zu schmeicheln, und werden mit Leseanweisungen versehen. Jetzt werde ich diskutieren, hier werden wir zurückkehren, später werde ich erklären...

Die wichtigsten deutschen Zeitungen verfügen über einen Hausjuden, der sich zu relevanten Themen äußert, z. B. zu der Frage, wer Jude ist, was Jude ist, zum Antisemitismus der Linken, zum Antisemitismus von Künstlern, zum Antisemitismus von allen außer Deutschen. Einige dieser Autoren sind selbst kleine Berühmtheiten. In Deutschland gibt es ein übergroßes, voyeuristisches Interesse an hochgradig kuratierten Vorstellungen von „jüdischer Kultur“, „jüdischen Stimmen“, „jüdischem Leben“, vorzugsweise frei von unreinen, ausländischen Einflüssen. In Deutschland gibt es etwa so viele jüdische Museen (viele davon in ehemaligen Synagogen) wie in den Vereinigten Staaten, einem Land mit einer viermal so großen Bevölkerung und etwa dreißig- bis sechzigmal so vielen Juden, das es daher nicht nötig hat, sie hinter Glas zu stellen.

Das deutsche Fernsehen hat vor kurzem eine preisgekrönte Talkshow mit dem Titel „Freitagnacht Jewsausgestrahlt, in der Juden am runden Tisch darüber sprachen, wie es ist, als Jude in Deutschland aufzuwachsen. Die Vogue Deutschland hatte einmal eine Kolumne von Mirna Funk mit dem Titel „Jüdisch heute“ - Untertitel: „Der Alltag einer deutschen Jüdin, die uns auf eine Reise durch eine Welt mitnimmt, die wir kaum kennen“- in der die Leserinnen und Leser etwas über jüdische Körper, jüdischen Sex, jüdische Zweifel, jüdische Entscheidungen und darüber erfahren konnten, warum jüdische Männer dank Beschneidung nicht so schnell kommen können. Die Deutschen lieben die Besonderheit semitischen Leids, die Besonderheit jüdischer Freuden. Sie lieben Klezmer-Musik. Sie werden feierlich mit dem Kopf nicken, wenn man ihnen sagt: „Mein Großvater ist ein Baum“.

Die großen Nutznießer dieses Bestattungsinteresses sind die Israelis, vorausgesetzt, sie kritisieren Israel nicht zu sehr. In der allgemeinen Wahrnehmung ist „israelisch“ ein Synonym für „jüdisch“. Innerhalb Israels ist die Realität komplizierter, aber Israelis werden dennoch von einer deutschen Öffentlichkeit, deren Denken immer noch grundlegend von einem nationalstaatlichen Rahmen geprägt ist, als die Summa aller jüdischen Dinge angesehen. Und die kulturellen Vorlieben der israelischen Gesellschaft - die Besessenheit, die israelische Identität als eine Art besondere existenzielle Bedingung zu hinterfragen, eine enorme Fähigkeit zur Selbstverherrlichung und zum Selbstmitleid - stimmen bequem mit den deutschen Erwartungen an die     „jüdische Kultur“ überein und spiegeln weitgehend die der deutschen Gesellschaft wider. Deutschland ist der größte Markt für übersetzte israelische Literatur in der Welt.

Die Existenz der heute in Deutschland lebenden Juden wird in einem „Theater der Erinnerung“ genutzt, um das deutsche Selbstbild zu rehabilitieren. Jeder hat eine Rolle: zerknirschte Deutsche, versöhnliche Juden.

Viele deutsche Großstädte und einige Bundesländer haben ihr eigenes „israelisch-jüdisches“ Kulturfestival oder ein „jüdisches“ Kulturfestival, „jüdisches“ Filmfestival usw.,  das eigentlich Israel, Israel, Israel ist... Weh, wie eine Wagner-Figur sagen könnte. Der deutsche Kulturapparat hat sein verkniffenes, liebloses Maul genüsslich auf den mittelmäßigsten Kulturzapfhahn der jüdischen Geschichte gesteckt und sie zu Abgesandten der „authentischen“ jüdischen Erfahrung erhoben und damit dazu beigetragen, die Vorstellung zu verbreiten, dass Israel die „wahre“ Heimat des jüdischen Volkes ist. Die Deutschen wissen nicht so recht, was sie mit den US-amerikanischen Juden anfangen sollen, die, wie eines dieser mysteriösen subatomaren Teilchen, in der einen Sekunde US-amerikanisch und in der nächsten jüdisch zu sein scheinen. Als ein ehemaliger Nachbar herausfand, dass ich Jude bin, hatte er das Bedürfnis, mir zu sagen, dass er Hummus liebt. Ein Baum ist ein Baum.

Eine US-amerikanische Ausnahme von dieser Dynamik ist Deborah Feldman, die Autorin von Unorthodox. Die Geschichte einer jungen Frau, die aus den barbarischen Fesseln des Chassidismus in das freiheitsliebende Deutschland flieht, fand hier auf mysteriöse Weise ein großes Publikum. „Deborah Feldman ist vielleicht die bekannteste Jüdin der Welt nach Anne Frank“, hieß es kürzlich in einer Rezension zu ihrem neuen Buch. Das Thema des Buches ist die Fetischisierung der Juden in Deutschland. Oder besser gesagt: Sie war eine Ausnahme, bis sie vor kurzem begann, die selektive Auffassung von „jüdischem Leben“ in Deutschland zu kritisieren, die Juden, die Israel kritisch gegenüberstehen und auch sonst nicht in diese verknöcherte Wahrnehmung passen, systematisch ausgrenzt.

An aktuellen Beispielen, die ihre Behauptungen untermauern, herrscht kein Mangel. Einem Kulturzentrum in Berlin wurde die Finanzierung gestrichen, nachdem es eine Friedensmahnwache einer jüdischen Gruppe veranstaltet hatte, die mit der Warnung einherging, dass Maßnahmen gegen „jede versteckte Form von Antisemitismus“ ergriffen würden. Ein Museum sagte die Ausstellung einer jüdischen Künstlerin ab, nachdem diese die Frechheit besessen hatte, zu einem Waffenstillstand aufzurufen. Als der israelische Filmemacher Yuval Abraham und der palästinensische Filmemacher Basel Adra auf der Berlinale für ihren Dokumentarfilm über die Zwangsvertreibung von Palästinensern durch israelische Siedler ausgezeichnet wurden, hielten sie Reden, in denen sie ein Ende der israelischen Apartheid und der deutschen Waffenlieferungen an Israel forderten.

Kai Wegner, der Bürgermeister von Berlin, verurteilte ihre Reden und sagte, es gebe „keinen Platz für Antisemitismus in Berlin“; Wochen später wurde er lächelnd mit Elon Musk fotografiert, der im vergangenen Jahr einen Beitrag über Juden, die Weiße hassen, als „die tatsächliche Wahrheit“ bezeichnete. Justizminister Buschmann (FDP) drohte mit Strafverfolgung. Die grüne Kulturministerin Claudia Roth sagte, die Reden seien „schockierend einseitig“ und „von einem tiefen Hass auf Israel geprägt“. Nachdem sie vor laufender Kamera dabei erwischt wurde, wie sie den beiden applaudierte, stellte Roth klar, dass ihr Beifall nur dem „jüdisch-israelischen“ Abraham galt.

Nicht alle „Ich bin Jude“-Essays stammen aus dem Feuilleton. Max Czolleks 2018 erschienenes Buch Desintegriert euch!, das vielleicht einflussreichste Werk jüdischer Kritik in der zeitgenössischen deutschen Literatur, wurde angeblich als Aufruf zu den Waffen für andere Juden geschrieben. Doch selbst diese Polemik richtet sich eindeutig an ein Publikum nichtjüdischer Feuilletonisten. Wie Wolff interessiert sich auch Czollek für die Haltung der Deutschen gegenüber den Juden. Er argumentiert, dass die Existenz der heute in Deutschland lebenden Juden in einem „Theater der Erinnerung“ zur Rehabilitierung des deutschen Selbstbildes genutzt wird. Jeder hat eine Rolle: zerknirschte Deutsche, versöhnliche Juden.

Czollek stellt zahlreiche Probleme richtig fest, nur um sich selbst noch tiefer in sie hineinzusteigern. Eine jüdische Figur aus einem von Czolleks Stücken, die in Desintegriert euch! zitiert wird, sagt: „Wir sind nicht eure guten Opfer, wir sind die bösen“.  Gute Opfer, böse Opfer - wie wäre es, kein Opfer zu sein? Sein Interesse an jüdischer Rache ist ähnlich kurzsichtig. Rache mag die müßige Fantasie kitzeln, aber dass er den fanatischen Nationalisten Meir Kahane (selbst für Israel zu rassistisch) in sein Pantheon jüdischer Rächer aufnimmt, hätte ein Anlass sein können, darüber nachzudenken, wie „jüdische Rache“ in der Praxis aussieht und wer die Konsequenzen trägt. Obwohl er gelegentlich darauf achtet, zu präzisieren, dass er von Deutschland spricht, extrapoliert er dies viel zu oft zu einer universellen Geschichte. Der Untertitel der neuen englischen Übersetzung lautet: „A Jewish Survival Guide for the 21st Century“.

Czollek war selbst Gegenstand einer Kontroverse über seine Identität. Im Jahr 2021 warf der Schriftsteller Maxim Biller Czollek vor, ein Meinungsjude und Faschingsjude für Linke zu sein, weil er nicht halachisch jüdisch ist. Czollek hat nur einen jüdischen Großelternteil. Die Czollek-Affäre löste eine wochenlange Feuilleton-Bonanza aus. Mirna Funk, die heute vielleicht produktivste Autorin von „Ich bin Jude in Deutschland“-Essays, schimpfte zunächst mit ihren Kollegen, dass es sich um eine innerjüdische Affäre handele, dann beschuldigte sie Czollek öffentlich, über seine Identität zu lügen, und nannte ihn einen Großvaterjuden. Neben ihrer Feuilletonarbeit schrieb Funk zuvor die Kolumne „Jüdisch heute“ für die Vogue Deutschland. Deutschlands Wegweiserin zum Judentum erfuhr erst mit Mitte zwanzig, dass sie halachisch nicht jüdisch ist. Sie ist eine Vaterjüdin; ihre Mutter ist Deutsche. Die patrilineare Abstammung wird von den jüdischen Behörden in Deutschland nicht anerkannt, und sie ist inzwischen konvertiert, aber das Thema ist eine Obsession in ihrer Arbeit, ebenso wie ihre Suche, mit Hilfe von Wikipedia, das Judentum zu definieren.

Das Judentum, so Funk, ist „Diskussionskultur“, „die ewige Suche nach mir selbst“. Eine jüdische Identität, so scheint sie zu sagen, besteht darin, ständig die Frage zu beantworten, was es für einen bedeutet, Jude zu sein. „Das Jüdischste am Juden war seine Selbstdefinition. Über sich selbst, über die Religion und über die Welt“.  „Neben dem Zweifel ist nichts so jüdisch wie die Idee der freien Wahl“. Solche Definitionen des Judentums finden sich regelmäßig im „Ich bin Jude in Deutschland“-Korpus. Wolff zitiert zustimmend einen Nachruf auf David Berman: „Mit Gott ringen, den Fremden spielen“. Andere haben einen makabren Beigeschmack. „Mein Problem“, schreibt Czollek, „ist, dass meine eigene Vorstellung von Jüdischsein mit einem riesigen Leichenberg begann“. Aus diesen Essays geht hervor, dass jüdische Identität als Gefühl formuliert wird. Es ist ein Gefühl, ein Außenseiter zu sein, es ist ein Gefühl der Suche nach der eigenen wahren Identität. Es ist vor allem ein Gefühl, nicht deutsch zu sein.

Und nun komme ich, wie es die Feuilleton-Leseanweisung nahelegt, zum Hauptpunkt: Jude in Deutschland zu sein, bedeutet heute, die Möglichkeit aufzuheben, deutsch und jüdisch zu sein. „Die grundlegendste Art und Weise, wie der Zweite Weltkrieg die Welt verändert hat“, schreibt der Historiker Yuri Slezkine, „war, dass er ein neues moralisches Absolutum hervorbrachte: die Nazis als universelles Übel“. Und dieses Böse hat einen ethnischen Inhalt: Deutsch.

Diese Vorstellung hat sich in das deutsche Selbstverständnis eingeprägt. Deutscher zu sein heißt, ein Täter zu sein, ein Täter. Doch der Kern der nationalen Identität Deutschlands, seiner berühmten Erinnerungskultur und der „Vergangenheitsbewältigung“, ist paradoxerweise sein Verhältnis zu den Juden, den universellen Opfern. Indem die Deutschen sich in die Juden einfühlen und sie unterstützen, die praktischerweise im Staat Israel verkörpert werden, können sie das Böse, das dem Deutschsein innewohnt und von Generation zu Generation weitergegeben wird, sühnen, als ob es ihnen im Blut läge. Juden werden zu Trägern einer ererbten Opfertugend.

Doch weit davon entfernt, die Vergangenheit zu überwinden, scheint diese Dynamik ihre ständige Wiederholung zu verlangen. Nicht-Deutsche können nur deutsch werden, wenn sie ihre eigene Geschichte an der Tür abgeben. Kulturministerin Roth sagte kürzlich zum neuen im Kamerun geborenen Direktor einer staatlichen Kultureinrichtung: „Sie sind ein Teil der Täternation geworden“. Kamerun war früher eine deutsche Kolonie.

Diese vorherrschenden Tendenzen sind nach den schrecklichen Gewalttaten in Israel und Palästina in den letzten Monaten immer deutlicher geworden. Die politischen, medialen und kulturellen Eliten Deutschlands haben sich beeilt zu zeigen, wer am nächsten zu Israel stehen kann. Die Identifikation war so intensiv und die Sicherheit Israels wurde so häufig als Staatsräson beschworen, dass ich mich manchmal gefragt habe, ob einige Deutsche nicht glauben, dass der Angriff der Hamas indirekt auf Deutschland gerichtet war. Vizekanzler Robert Habeck hielt eine vielbeachtete Rede, in der er die Muslime in Deutschland aufforderte, „sich klar vom Antisemitismus zu distanzieren, um ihr eigenes Recht auf Toleranz nicht zu untergraben“. Eine ähnliche Aufforderung an die braven christlichen Bürger in Deutschland blieb aus. Friedrich Merz, der Vorsitzende der CDU (Angela Merkels Partei), der weithin als Spitzenkandidat für das Amt des nächsten Bundeskanzlers gilt, schlug vor, die Anerkennung des Existenzrechts Israels zur Bedingung für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft zu machen. Sein Vorschlag ist im ostdeutschen Bundesland Sachsen-Anhalt Realität geworden.

Diese Formulierung der deutschen Identität bietet keine integrative Vision für ein sich diversifizierendes Land. Die Lebensgefährtin eines Freundes, die von kurdischen „Gastarbeitern“ abstammt, die nach dem Krieg ins Land kamen, war von ihrem lautstarken Schulunterricht über die Untaten früherer Generationen in Deutschland so beeindruckt, dass sie kurzzeitig glaubte, ihr eigener Großvater habe während des Krieges ebenfalls Juden in Europa abgeschlachtet. Das Deutschtum als solches hat keinen erstrebenswerten, positiven Inhalt. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum manche diesem Kreislauf der pathologisierten Schuld entkommen wollen, so wie es auch nicht überrascht, dass manche die Identifikation mit den Juden noch einen Schritt weiter treiben würden.

Das Problem mit solch abstrakten Vorstellungen vom Judentum ist, dass es leicht zu einer Leinwand wird, die man mit der Textur und den Farben seiner eigenen Gefühle bemalt. Neurotizismus, Dislokation, Entfremdung: Es ist kein großer Sprung von jüdischer Identität als Gefühl zu „sich jüdisch fühlen“. Diese Gefühle sind keine Besonderheit der Juden, aber die Häufigkeit dieser Fälle ist eine Besonderheit Deutschlands. In anderen Ländern tauchen sie selten auf. Nicht einmal in Österreich, das mit Deutschland eine Nazigeschichte, wenn nicht gar ein historisches Gedächtnis teilt.

Es ist bezeichnend, dass Wolff, Czollek und Funk alle in Ost-Berlin geboren wurden. Abgeschottet von der Welt, bieten die Juden der ehemaligen DDR eine schwache Verbindung zum jüdischen Leben der Vorkriegszeit: eine Fantasie des Fortbestands. „Ich bin einer der wenigen Juden, die eine Geschichte in Deutschland aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg haben“, sagte Czollek einmal in einem Interview mit der New York Times. Die große Mehrheit der Juden in Deutschland sind heute Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Viele Synagogen in Deutschland fungieren als russischsprachige Gemeindezentren. Aber es gibt keine Kontinuität, weil Deutschland die Juden ermordet hat. Die Gemeinschaft der deutschen Juden, unter denen es üblich war, sich zu rühmen, „deutscher als die Deutschen“ zu sein, ist verschwunden, verstreut. Doch Deutsch bleibt die Sprache der größten säkularen Beiträge der jüdischen Kultur zur Weltkultur, und so bleibt diese Gemeinschaft als Geschenk und Beispiel für uns alle bestehen, ob wir Juden sind oder nicht.

Die „Ich bin Jude in Deutschland“-Aufsätze artikulieren so etwas wie das Gegenteil: eine brüchige, unsichere Identität in einem Land, das Juden viele Zusicherungen und keine Sicherheiten bietet. Sie markieren „jüdisch“ und "„deutsch“ als Dichotomie von unterschiedlichen, unvereinbaren Identitäten. Diese Essays feiern den „jüdischen Humor“ und sind chronisch unlustig. Sie verweisen auf die Tiefgründigkeit und Sachlichkeit der jüdischen Kultur und halten sich an das Schema der hiesigen Weltanschauung. Die sozialen Umgangsformen sind zutiefst unbeholfen. Es ist fast so, als wären sie … deutsch.

Das Problem mit abstrakten Vorstellungen vom Judentum ist, dass es leicht zu einer Leinwand wird, die man mit der Textur und den Farben seiner eigenen Gefühle bemalt.

Die Farce dieser Situation ist leicht erkennbar. Aber die Tragödie hat sich nie weit von der Oberfläche entfernt, und diese Tragödie ist seit dem 7. Oktober, der einige Wochen, nachdem ich den ersten Entwurf dieses Essays an eine andere Zeitschrift geschickt hatte, stattfand, noch deutlicher sichtbar geworden. Seit dem 7. Oktober haben deutsche Politiker auf der Grundlage nebulöser Befindlichkeiten Verstöße gegen die verfassungsmäßige Ordnung des Landes zugelassen und damit unwissentlich einen ruinösen Präzedenzfall für den Fall geschaffen, dass die rechtsextreme Alternative für Deutschland an die Macht kommt. Seit dem 7. Oktober sind die deutschen Waffenlieferungen an Israel so stark angestiegen, dass die Gesamtsumme für 2023 eine Verzehnfachung gegenüber dem Vorjahr darstellt und nun 30 Prozent der israelischen Waffenimporte ausmacht (ein anderer Bericht spricht sogar von 47 Prozent). Und seit dem 7. Oktober haben die israelischen Streitkräfte mit dieser Munition mehr als vierzehntausend Kinder in Gaza getötet. Deutschland hat ein Herz für Kinder.

Ironischerweise war es Fabian Wolff, der sich am stärksten für eine globalere Perspektive der deutschen Juden einsetzte. Doch auch er war eine Rolle: der linke Jude. Und dafür, dass er das deutsche Selbstverständnis grundlegend in Frage gestellt hat, hat er teurer bezahlt als ein Possenreißer wie Walter Homolka, der seit kurzem wieder an der Universität lehrt, an der er einst großen Einfluss hatte.

„Nichts, was einem wirklich gehört, kann einen beeindrucken“, schrieb Witold Gombrowicz, der sich wie kein anderer Schriftsteller, mit dem der Identität innewohnenden Rollenspiel auseinandergesetzt hat. „Wenn uns also unsere Größe oder unsere Vergangenheit beeindruckt, ist das ein Beweis dafür, dass sie noch nicht in unseren Blutkreislauf gelangt ist“.

Was bedeutet es, ein Jude zu sein? Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen ich über diese Frage nachgedacht habe, ist mir unerklärlicherweise immer wieder der Satz „das größte Geschenk meines Lebens“ eingefallen. Und so danke ich Tante Estelle, danke Onkel Stan, Tante Renata, Onkel David und danke Opa Max und Oma Stefanie - verheiratet in Breslau, 1938 - und vor allem danke meiner Mutter.

Es wird erzählt, dass Pompeius, als er Jerusalem eroberte, in den Tempel eindrang und Zugang zum Allerheiligsten verlangte, aber einen leeren Raum vorfand.

 

Maor X