Nachfolgend
drei Texte, die das Desaster des europäischen Denkens in Zeiten des Völkermords
illustrieren, der von der moralischsten Armee der Welt mit dem Segen und der
bewaffneten Unterstützung der Führer der aufgeklärtesten Mächte der Welt
begangen wird. Übersetzungen von Helga
Heidrich, Tlaxcala
Dank Gaza ist die europäische Philosophie als
ethisch bankrott entlarvt worden
Hamid Dabashi, Middle Easte Eye,
18/1/2024
Hamid Dabashi ist Hagop Kevorkian
Professor für Iranistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia
University in New York, wo er Vergleichende Literaturwissenschaft, Weltkino und
Postkoloniale Theorie unterrichtet. Zu seinen jüngsten Büchern
gehören The Future of Two Illusions: Islam after the West (2022); The Last
Muslim Intellectual: The Life and Legacy of Jalal Al-e Ahmad (2021); Reversing
the Colonial Gaze: Persian Travelers
Abroad (2020) und The Emperor is Naked: On the Inevitable Demise of the
Nation-State (2020). Seine Bücher und Essays sind in
viele Sprachen übersetzt worden.
Von Heideggers Nationalsozialismus bis zu Habermas'
Zionismus ist das Leiden des „Anderen“ von geringer Bedeutung
Stellen Sie sich vor, der Iran, Syrien, der Libanon oder die Türkei - mit
voller Unterstützung, Bewaffnung und diplomatischem Schutz durch Russland und China - hätten
den Willen und die Mittel, Tel Aviv drei Monate lang Tag und Nacht zu
bombardieren, Zehntausende von Israelis zu ermorden, unzählige weitere zu
verstümmeln, Millionen obdachlos zu machen und die Stadt in einen unbewohnbaren
Trümmerhaufen zu verwandeln, so wie heute Gaza.
Stellen Sie sich das einmal für ein paar Sekunden
vor: der Iran und seine Verbündeten würden absichtlich bewohnte Teile von Tel
Aviv, Krankenhäuser, Synagogen, Schulen, Universitäten, Bibliotheken - oder
überhaupt alle bewohnten Orte - angreifen, um ein Maximum an zivilen Opfern zu
gewährleisten. Sie würden der Welt sagen, sie seien nur auf der Suche nach dem israelischen
Premierminister Benjamin Netanjahu und seinem Kriegskabinett.
Fragen Sie sich, was die USA, das Vereinigte
Königreich, die EU, Kanada, Australien und insbesondere
Deutschland innerhalb von 24 Stunden nach dem Ansturm dieses fiktiven Szenarios
tun würden.
Kehren Sie nun in die Realität zurück und bedenken
Sie, dass Tel Avivs westliche Verbündete seit dem 7. Oktober (und seit
Jahrzehnten davor) nicht nur zusehen, was Israel dem palästinensischen Volk antut,
sondern es auch mit militärischer Ausrüstung, Bomben, Munition und
diplomatischem Beistand versorgen, während US-amerikanische Medien ideologische
Rechtfertigungen für das Abschlachten und den Völkermord an den Palästinensern
liefern.
Das oben beschriebene fiktive Szenario würde von
der bestehenden Weltordnung nicht einen Tag lang toleriert werden. Mit der
militärischen Gewalt der USA, Europas, Australiens und Kanadas, die vollkommen hinter
Israel stehen, sind wir hilflose Menschen auf der Welt, genau wie die
Palästinenser, nichts wert. Dies ist nicht nur eine politische Realität,
sondern betrifft auch die moralische Vorstellung und das philosophische
Universum dessen, was sich „der Westen“ nennt.
Haut du formulaire
Bas du formulaire
Haut du formulair
Bas du
formulaire
Diejenigen von uns, die sich außerhalb der
europäischen Sphäre der moralischen Vorstellungskraft befinden, existieren
nicht in ihrem philosophischen Universum. Araber, Iraner und Muslime oder
Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika - wir haben für europäische
Philosophen keine ontologische Realität, außer als metaphysische Bedrohung, die
besiegt und besänftigt werden muss.
Angefangen bei Immanuel Kant und Georg Wilhelm
Friedrich Hegel bis hin zu Emmanuel Levinas und Slavoj Zizek sind wir
Merkwürdigkeiten, Dinge, erkennbare Objekte, die die Orientalisten zu
entschlüsseln hatten. Die Ermordung von Zehntausenden von uns durch Israel oder
die USA und ihre europäischen Verbündeten lässt die europäischen Philosophen
daher nicht im Geringsten innehalten.
Europäisches Stammpublikum
Wer das bezweifelt, braucht nur einen Blick auf den
führenden europäischen Philosophen Jurgen
Habermas und einige seiner Kollegen zu werfen, die sich in einem erstaunlich
unverhohlenen Akt grausamer Gemeinheit für das Abschlachten der Palästinenser
durch Israel ausgesprochen haben. Die Frage ist nicht mehr, was wir von
Habermas, der jetzt 94 Jahre alt ist, als Mensch halten sollen. Die Frage ist,
was wir von ihm als Sozialwissenschaftler, Philosoph und kritischer Denker
halten sollen. Ist das, was er denkt, für die Welt noch von Bedeutung, wenn es
das jemals war?
Die Welt hat sich ähnliche Fragen über einen anderen bedeutenden
deutschen Philosophen, Martin Heidegger, angesichts seiner verhängnisvollen
Verbindungen zum Nazismus gestellt. Meiner Meinung nach müssen wir jetzt solche
Fragen über Habermas' gewalttätigen Zionismus und die bedeutenden Konsequenzen
für das, was wir von seinem gesamten philosophischen Projekt halten könnten,
stellen.
Wenn Habermas in seiner moralischen
Vorstellungskraft nicht ein Jota Platz für Menschen wie die Palästinenser hat,
haben wir dann irgendeinen Grund, sein gesamtes philosophisches Projekt als in
irgendeiner Weise auf den Rest der Menschheit bezogen zu betrachten - jenseits
seines unmittelbaren europäischen Stammpublikums?
In einem offenen Brief an Habermas sagte der
angesehene iranische Soziologe Asef Bayat, er widerspreche „seinen eigenen
Ideen“, wenn es um die Situation in Gaza geht. Bei allem Respekt, ich bin
anderer Meinung. Ich glaube, dass Habermas' Missachtung des Lebens der
Palästinenser ganz im Einklang mit seinem Zionismus steht. Sie entspricht ganz
und gar der Weltanschauung, nach der Nichteuropäer nicht vollständig menschlich
sind oder „menschliche Tiere“ sind, wie der israelische Verteidigungsminister
Yoav Gallant offen erklärt hat.
Diese völlige Missachtung der Palästinenser ist
tief in der deutschen und europäischen philosophischen Vorstellungswelt
verwurzelt. Die allgemeine Weisheit besagt, dass die Deutschen aus der Schuld am Holocaust eine solide Verpflichtung gegenüber
Israel entwickelt haben.
Aber für den Rest der Welt, wie das großartige Dokument, das Südafrika dem Internationalen Gerichtshof
vorgelegt hat, beweist, gibt es eine perfekte Übereinstimmung zwischen dem, was
Deutschland während seiner Nazizeit getan hat, und dem, was es jetzt während
seiner zionistischen Ära tut.
Ich glaube, dass Habermas' Position im Einklang mit
der Politik des deutschen Staates steht, der sich an der zionistischen Abschlachtung der
Palästinenser beteiligt. Sie steht auch im Einklang mit dem, was als „deutsche
Linke“ gilt, mit ihrem ebenso rassistischen, islamfeindlichen und
fremdenfeindlichen Hass auf Araber und Muslime und ihrer uneingeschränkten
Unterstützung für die völkermörderischen Aktionen der israelischen
Siedlerkolonie.
Man möge uns verzeihen, wenn wir dachten, dass
Deutschland heute keine Holocaust-Schuld, sondern Völkermord-Nostalgie hat, da
es sich stellvertretend an Israels Abschlachten der Palästinenser im letzten
Jahrhundert (nicht nur in den letzten 100 Tagen) ergötzt hat.