Gideon Levy, Haaretz 29.5.2025
Übersetzt von Fausto Giudice ,
Tlaxcala
Deutschland hat das Andenken an den Holocaust und seine
Lehren verraten. Ein Land, das es als seine höchste Aufgabe ansah, nicht zu
vergessen, hat vergessen. Ein Land, das sich selbst versprochen hat, niemals zu
schweigen, schweigt. Ein Land, das einst „Nie wieder“ sagte, sagt nun „wieder“,
mit Waffen, mit Geld, mit Schweigen. Kein Land sollte besser darin sein als
Deutschland, „widerliche Prozesse zu erkennen“. Jeder Deutsche weiß viel mehr
darüber als Yair Golan. Hier in Israel sind sie in vollem Gange, doch
Deutschland hat sie noch nicht als das erkannt, was sie sind. Erst kürzlich ist
es zu spät und zu wenig aufgewacht.
Wenn Deutschland den Flaggenmarsch in Jerusalem sieht, muss es die Reichspogromnacht sehen. Wenn es die Parallelen nicht
sieht, verrät es das Andenken an den Holocaust. Wenn es auf Gaza blickt, muss
es die Konzentrationslager und Ghettos sehen, die es gebaut hat. Wenn es
hungrige GazanerInnen sieht, muss es die elenden Überlebenden der Lager sehen.
Wenn es die faschistischen Reden israelischer Minister und anderer
Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens über Tötung und Bevölkerungstransfer,
über „keine Unschuldigen“ und über das Töten von Babys hört, muss es die
erschreckenden Stimmen aus seiner Vergangenheit hören, die dasselbe auf Deutsch
gesagt haben.
Sie hat kein Recht zu schweigen. Sie muss die Fahne des
europäischen Widerstands gegen das, was im Gazastreifen geschieht, hochhalten.
Doch sie hinkt weiterhin hinter dem Rest Europas hinterher, wenn auch unbequem,
nicht nur wegen ihrer Vergangenheit, sondern auch wegen ihrer indirekten Verantwortung für die Nakba, die ohne den Holocaust wahrscheinlich nicht stattgefunden hätte.
Deutschland hat auch eine teilweise moralische Schuld gegenüber dem
palästinensischen Volk.
Ohne die Unterstützung der Vereinigten Staaten und
Deutschlands hätte es die israelische Besatzung nicht gegeben. Während dieser
ganzen Zeit galt Deutschland als Israels zweitbester Freund. Seine
Unterstützung war bedingungslos
und vorbehaltlos. Jetzt wird Deutschland für seine langen Jahre der strengen Selbstzensur
bezahlen, in denen es verboten war, Israel, das heilige Opfer, zu kritisieren.
Jede Kritik an Israel wurde als Antisemitismus abgestempelt. Der gerechte Kampf für die Rechte der Palästinenser wurde
kriminalisiert. Ein Land, in dem ein großes Medienimperium von seinen
Journalisten als Einstellungsvoraussetzung verlangt, niemals Israels
Existenzrecht in Frage zu stellen, kann nicht behaupten, die Meinungsfreiheit
zu achten. Und wenn Israels derzeitige Politik seine Existenz gefährdet, sollte
es dann nicht erlaubt sein, es zu kritisieren?
In Deutschland ist es schwierig, wenn nicht gar
unmöglich, Israel zu kritisieren, egal was es tut. Das ist keine Freundschaft,
das ist Knechtschaft gegenüber einer Vergangenheit, und das muss angesichts
der Ereignisse in Gaza ein Ende haben. Die „besondere Beziehung“ kann keine
Billigung von Kriegsverbrechen beinhalten. Deutschland hat kein Recht, den
Internationalen Strafgerichtshof, der als Reaktion auf seine Verbrechen
eingerichtet wurde, zu ignorieren, indem es darüber debattiert, wann es einen
wegen Kriegsverbrechen gesuchten israelischen Ministerpräsidenten einladen
soll. Es hat kein Recht, die Klischees der Vergangenheit zu wiederholen und
Blumen in Yad Vashem niederzulegen, 90 Autominuten von Chan Yunis entfernt.
Deutschland steht nun vor seiner schwersten moralischen
Prüfung seit dem Holocaust. Wenige Wochen nach dem Einmarsch Wladimir Putins in
die Ukraine war es Deutschland, das die Sanktionen gegen Russland anführte.
Zwanzig Monate nach der Invasion des Gazastreifens hat Deutschland noch immer
keine Maßnahmen gegen Israel ergriffen, abgesehen von den gleichen
Lippenbekenntnissen wie andere europäische Länder.
Deutschland muss sich ändern, nicht trotz seiner
Vergangenheit, sondern gerade wegen ihr. Es reicht nicht aus, dass
Bundeskanzler Friedrich Merz sagt, dass die Bombardierung des Gazastreifens
nicht mehr zu rechtfertigen sei. Er muss Maßnahmen ergreifen, um sie zu
stoppen. Es reicht nicht aus, dass Außenminister
Johann Wadephul sagt, dass Deutschland sich nicht „in eine Lage bringen lassen
wird, in der wir Zwangssolidarität zeigen müssen“.
Es ist Zeit, dass Deutschland sich mit den Opfern
solidarisch zeigt und sich von den Fesseln der Vergangenheit befreit, die es
von den Lehren des Holocaust entfremden. Deutschland kann nicht weiter tatenlos
zusehen und sich mit halbherzigen Verurteilungen begnügen. Angesichts der
schrecklichen Lage in Gaza ist dies Schweigen – das beschämende Schweigen
Deutschlands.