26/02/2022

LUIS CASADO
Ukraine: Was ist das (verdammte) Problem?

Luis Casado, Politika 25.02.22
Original: Ucrania: ¿Cuál es el (jodido) problema?
Übersetzt von Anamaria Diaz-Rodrigo

Laut Hélène Carrère d'Encausse - Sekretärin auf Lebenszeit der Académie Française, „unsterblich“ (wie die Mitglieder der Académie genannt werden), selbst gebürtige Russin und Kennerin der russischen Geschichte - lebten nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 Millionen von Russen und Angehörigen anderer Nationalitäten im falschen Land (Hélène Carrère d'Encausse - La Gloire des Nations ou la Fin de l’Empire Soviétique, Paris, 1990). Dies war eine der schwerwiegenden Folgen der Nationalitätenpolitik, die die Bolschewiki zu Beginn der russischen Revolution beschlossen hatten.

Die spätere UdSSR bestand aus fünfzehn Sowjetrepubliken, in denen es 20 Autonome Sozialistische Sowjetrepubliken (ASSR) gab, darunter sechzehn in der Russischen Föderation, zwei in Georgien, eine in Aserbaidschan und eine in Usbekistan, sowie acht Autonome Regionen und zehn Autonome Bezirke.

Wladimir Putin täte gut daran, die Werke von Carrère d'Encausse zu lesen, um nicht über Lenin zu lästern, den er beschuldigt, der Schöpfer künstlicher Republiken - wie der Ukraine - zu sein, die heute zum Spielball imperialer Interessen geworden sind.

Im Jahr 1917 besaßen die Großmächte Kolonien in der ganzen Welt. Die Sowjetmacht konnte nur um den Preis entstehen, dass in der Verfassung das Recht jedes Einzelnen auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung anerkannt wurde. Ihre Integration in die UdSSR war freiwillig. Eine Frage des Prinzips. Prinzipien, ein Thema, über das sich heute die meisten der nullachtfünfzehn, die uns regieren, kaputt lachen.

Der Aufsatz, der die Nationalitätenpolitik der Bolschewiki definierte, wurde nicht von Lenin verfasst, wie Putin in einer seiner Erklärungen behauptete, sondern von Iosif Wisarionowitsch Schugaschwili, damals bekannt als Koba, der später als Stalin berühmt wurde. In der Zwischenzeit hat Putin seinen Fehler korrigiert, aber seine apokalyptische Vision einer revolutionären Macht ist immer noch vorhanden. Das ist eine seiner Schwächen.

Putin sollte die Gunst der Stunde nutzen und Carrère d'Encausses Lenin-Biografie lesen. Nicht, weil es das vollständigste oder gelehrteste ist - weit gefehlt -, sondern weil die Autorin zeigt, dass die Zeitspanne, in der Lenin seine Autorität unter den Bolschewiki ausüben konnte, die sehr anfällig für Debatten, für Fragen und für die Suche nach fünf Beinen für die Katze waren, sehr kurz war: vom Oktober 1917 bis zum 30. August 1918 (dem Tag, an dem ein Attentat auf ihn verübt und ihm eine Kugel in den Kopf gejagt wurde): nicht einmal ein Jahr!

Fast ein Jahrhundert lang haben die Kolonialmächte - die USA, das Vereinigte Königreich, Frankreich, Deutschland, Spanien, Portugal, die Niederlande, Belgien, Japan usw. - blutige Befreiungskriege mit Millionen von Toten und schrecklichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterdrückt, die Geschichte bequemerweise ausgelöscht, um sich als Verteidiger der Freiheit und der Demokratie zu profilieren, die sie jetzt verkaufen wollen. Zurück bleiben die Morde an Mehdi Ben Barka, Thomas Sankara, Patrice Lumumba, Ruben Um Nyobè, Félix Moumié, Barthélémy Boganda und vielen anderen.

Es ist eine Tatsache, dass die Ukraine schon immer mit Russland verbunden war: Russland, Weißrussland und die Ukraine haben alle ihre Wurzeln in Kiew. Es waren die Russen, die all diese Gebiete von der Mongolenherrschaft befreit haben (1480), weshalb die heutigen Ukrainer keine schrägen Augen haben. Die unwissenden Journalisten, die behaupten, die Ukraine habe nichts mit Russland zu tun, sollte man fragen, woher Nikita Chruschtschow und Leonid Breschnew kamen, jene grausamen Kommunisten, die der „Westen“ seinerzeit so vehement bekämpft hat.

Aus der Zeit der Korenisazija ("Indigenisierung, Einwurzelung"), die zum Ziel hatte, nichtrussische Völker in den neuen Staat einzubinden, indem Minderheiten explizit gefördert wurden, um diese in den KPdSU-Kader und damit in die Sowjetunion zu integrieren. Russen wurden dazu ermutigt, teilweise auch dazu verpflichtet, in Gebieten, in denen sie eine Minderheit darstellten, die jeweilige Sprache zu lernen. Insbesondere in der Ukrainischen SSR führte die Korenisazija-Politik zu einer regelrechten (Re-)Ukrainisierung. Sowjetukrainisches Propagandaplakat 1921 mit ukrainischer Aufschrift: „Sohn! Tritt in die Schule der Roten Kommandanten ein und die Verteidigung der Sowjetukraine wird gesichert sein.“ Die Blumenranken und das kosakische Outfit des Vaters (Wyschywanka-Hemd, rasierte Glatze mit Tschub, langer Schnurrbart, in der Sowjetunion oft „kosakisches/ ukrainisches Hufeisen“ genannt) wurden gerade in dieser Zeit als spezifisch ukrainisch herausgestellt.

Putin behauptet, Lenin habe die Ukraine künstlich geschaffen, um ihn für eine prinzipienfeste Politik verantwortlich zu machen, dank derer Hunderte von Volksgruppen in der damaligen UdSSR in Frieden und Harmonie lebten und auch heute noch in der Russischen Föderation in Frieden leben. Es gab keine rassische oder ethnische Diskriminierung, wie sie in den USA gegenüber Schwarzen, Chicanos, Latinos, Japanern, Italienern und anderen aus der Einwanderung oder dem Sklavenhandel stammenden Gruppen praktiziert wurde.

Doch wie Carrère d'Encausse berichtet, waren 1991 Millionen von Russen über das riesige Gebiet und in Hunderte von Regionen verstreut, ebenso wie Hunderttausende von Tschetschenen, Turkmenen, Kirgisen, Tataren, Letten, Litauern, Esten, Georgiern, Kasachen, Armeniern, Ukrainern, Weißrussen und sogar andere Nationalitäten, die unterschiedliche und vielfältige religiöse Bräuche pflegten: Juden, Christen, Muslime, Lutheraner und so weiter. Überall gab es multinationale Familien. Die Frage war nun, wie man allen die Bürgerrechte garantieren konnte, die sie in der UdSSR zu Recht oder zu Unrecht genossen hatten.

Das war der Zeitpunkt, an dem es sich herumzusprechen begann. Irgendein neues unabhängiges Land, das erst vor kurzem demokratisch geworden ist, hat eine Art ethnische Säuberung der Nationalitäten durchgeführt, die ihm unheimlich waren, angefangen mit den Russen. Schlechte Sache, wenn man Russland neben sich hat.

Genau das hat die ukrainische Regierung nach dem Staatsstreich von 2014 getan... angespornt durch das, was ein französischer Journalist gestern als „US-Lügen, die sie glauben machen sollten, sie könnten der NATO beitreten“ bezeichnete.

Und schon sind wir in Schwierigkeiten: Russland marschiert in die Ukraine ein. Das europäische Fernsehen tut das Übliche: Es lädt eine Reihe von „Experten“ und bezahlten Journalisten ein, um Russland zu verurteilen, nennt Wladimir Putin beim Namen, kündigt apokalyptische Sanktionen an, spricht Drohungen aus und deutet die wildesten Reaktionen an.

Ein „Experte“ schlug vor, „das Schwarze Meer zu schließen“ [sic]. Er hat wohl Geographie auf Google Maps studiert, aber man kann ihm verzeihen, dass er ein „Experte“ ist, d.h. eine unverantwortliche Person (übrigens hat eine französische Zeitung heute Morgen ein Interview mit einem französischen General veröffentlicht, der behauptet, dass Algerien über hochmoderne Waffen verfügt, mit denen es die Straße von Gibraltar schließen kann...).

Derjenige, der zu weit geht - und er trägt durchaus Verantwortung - ist der französische Außenminister: Nachdem Putin erklärt hatte, er werde auf mögliche Sanktionen mit äußerster Härte reagieren, erklärte Jean-Yves Le Drian - ein „sozialdemokratischer“ Überläufer - in einem pathetischen Versuch zu zeigen, dass er die Oberhand hat: „Wir haben auch Atomwaffen“ [resic]. Wir Pariser sollen erleichtert aufatmen: Unsere nukleare Verbrennung wird zur gleichen Zeit wie die unserer Moskauer Nachbarn einsetzen. Ein schwacher Trost.

In der Zwischenzeit stellt Joe Biden erfreut fest, dass die Ziele der USA erreicht werden: die Kontrolle des Imperiums über fast ganz Europa zu stärken, Russland zu einer Machtdemonstration zu zwingen, seine europäischen Vasallen noch mehr in Angst und Schrecken zu versetzen und ganz nebenbei, als ob es nichts anderes wäre, die Wirtschaft Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Spaniens zu schwächen: ein kleines Detail, ein einfaches Kollateralopfer der „Aggressivität des russischen Bären“. Wer gewinnt?

Um Öl und Gas muss man sich keine Sorgen machen, die USA verfügen über die notwendigen Mengen (zum Goldpreis, klar), das Produkt des Fracking, das zur Zerstörung des Planeten beiträgt, aber wen interessiert schon die Ökologie, „wenn es darum geht, Freiheit und Demokratie zu schützen“?

Machen Sie sich keine Illusionen. Ich unterstütze Putin nicht. Dank des europäischen Fernsehens bin ich in Mickeys Welt: Die Menschheit ist in Gut und Böse unterteilt. Mickey ist gut. Auf der anderen Seite stehen die Bad Guys. Sie können nichts falsch machen. Ich bin natürlich bei Mickey, denn ich bin gut.

Wie könnte es anders sein? Hubert Védrine, der Außenminister von François Mitterrand, der in dieser Eigenschaft für den Völkermord an den Tutsi in Ruanda (7. April - 17. Juli 1994) verantwortlich war, bei dem 800.000 Männer, Frauen und Kinder mit Hilfe der französischen Armee mit der Machete ermordet wurden, Hubert Védrine, sage ich, ein Mann mit Erfahrung, schlägt vor, „direkt mit den Russen zu sprechen“, um sie dazu zu bringen, Putin aufzugeben. Es gibt Tritte in den Hintern, die verloren gehen... aber Védrine ist auch auf Mickeys Seite... (dies wurde von einem hochrangigen französischen Armeeoffizier berichtet, der zu dieser Zeit in Ruanda war).

Die Katastrophe, die der von den USA unterstützte Staatsstreich in der Ukraine auslöste, der die Macht an eine Herde von Neonazis übergab (2014), war so gewaltig, dass das Thema entschärft werden musste. Dies führte zum Minsker Protokoll, das von der Ukraine, Deutschland, Frankreich und Russland unterzeichnet wurde (05.09.2014). Dieses Protokoll verpflichtete die Ukraine unter anderem dazu, die Unterdrückung und Verfolgung der russischsprachigen Bevölkerung einzustellen. Würde es Sie überraschen zu erfahren, dass die ukrainische Regierung diese Abkommen durch den Augustusbogen zog, ohne dass irgendjemand im Westen darauf reagierte? Sie wissen ja: „Freiheit und Demokratie verteidigen“ hat seine Tücken...

Dann gaben die USA über ihren bewaffneten Flügel, die NATO, der Ukraine zu verstehen, dass sie dem Militärpakt beitreten könne, um gut geschützt zu sein. In der Zwischenzeit hat sich das BIP der Ukraine in 31 Jahren halbiert, und das ist nur ein Detail. Niemand will sie in der Europäischen Union, aber in der NATO, denn - es wurde schon gesagt – „Die Verteidigung der Freiheit und der Demokratie“ hat es in sich... Das Kanonenfutter rekrutiert sich aus den Armen...

All dies wurde von Putin in zahllosen öffentlichen Auftritten immer und immer wieder wiederholt, aber wen interessiert schon eine ehemalige Großmacht, deren BIP niedriger ist als das Italiens (ein Argument, das in einer Schleife im europäischen Fernsehen wiederholt wurde). Die NATO-Erweiterung wurde also fortgesetzt, als ob nichts geschehen wäre.

Putin hat eindeutig angekündigt, dass dies eine russische Reaktion hervorrufen würde, und die einzige Überraschung ist, dass es so lange gedauert hat: Mickey wusste es. Ich selbst, ein Freund von Mickey, habe es jedenfalls schon oft aus dem Munde Putins gehört (schauen Sie sich einfach das russische Fernsehen an...), und ich schätze, die westlichen „Geheimdienste“ haben es auch getan. Gestern sagte ein französischer Journalist in einem Fernsehsender genau das Gleiche. Heute ist er nicht mehr da, vielleicht weil „Die Verteidigung der Freiheit und der Demokratie“ ihre Gründe hat...

An diesem Punkt stellte ich mir in einem verzweifelten Versuch, Mickey zu helfen, die Millionen-Dollar-Frage:

Schließlich: Was ist die Lösung für das (verdammte-)Problem?

Russland weiter provozieren? So wie ein Ektoplasma namens Jens Stoltenberg, NATO-Generalsekretär, der behauptete, dass „je mehr Russland die NATO bekämpft, desto mehr NATO wird es an seinen Grenzen haben“?

Übrigens hat Papasöhnchen Stoltenberg weder seinen Militärdienst abgeleistet, noch hat er Pfeil und Bogen: Stoltenberg serviert den Yankee-Generälen Kaffee, wenn sie kommen, um die Sauberkeit der Räumlichkeiten in Brüssel zu überprüfen. Ein Sozialdemokrat, der sich als „Bob Dylan-Fan“ bekennt.

Russland (Wladimir Putin, Sergej Lawrow, Sergej Schoigu...) hat bis zum Überdruss wiederholt, dass seine finsteren Absichten darin bestehen, eine Europäische Sicherheitskonferenz einzuberufen, auf der die Sicherheit jedes einzelnen europäischen Landes, einschließlich Russlands, verhandelt und garantiert werden kann.

Damit die NATO nie wieder eine europäische Hauptstadt bombardieren kann, so wie sie 1999 Belgrad bombardiert hat.

Damit die NATO nie wieder ein Land wie Jugoslawien zerreißen und serbisches Territorium zerstückeln kann, um einen künstlichen Staat nach eigenem Gutdünken zu schaffen, wie dieser Scherz im Kosovo.

Die Russen sind solche Bad Boys, dass sie nicht einmal verlangen, dass der „Westen“ aufhört, Kriege in Afrika zu organisieren, wie bei der Bombardierung Libyens durch Frankreich und Großbritannien mit Hilfe der USA im Jahr 2011. Oder als sie gemeinsam fünf Jahre lang Syrien bombardierten, mit Unterstützung von 20 NATO-Partnerstaaten. Oder wie Frankreich, das 14 Jahre lang Krieg in Mali geführt hat, aus dem es gerade vertrieben wurde. Oder organisierte Staatsstreiche wie in Burkina Faso, wo Frankreich Thomas Sankara ermorden ließ. Aus Platzgründen werde ich nicht auf die Kriege in Afghanistan, im Irak, im Iran, im Jemen oder in Somalia eingehen... Und natürlich auch nicht auf die unzähligen Staatsstreiche in Lateinamerika.

Meine Antwort auf die Frage, was die Lösung für das (verdammte)Problem ist, ist also ganz einfach.

Die NATO aufgeben. Aufbau einer europäischen Verteidigung, damit wir nicht länger Vasallen der USA sind. Die Kriege beenden. ALLE Kriege. Organisation einer Sicherheits- und Grenzschutzkonferenz in Europa für ALLE europäischen Länder. Die Sicherheit der anderen als Teil unserer eigenen Sicherheit betrachten. Beendigung der wahllosen Waffenverkäufe links, rechts und in der Mitte. Wiederaufnahme des Dialogs mit Russland. An unsere eigenen Interessen denken.

Natürlich gibt es Alternativen: den ganzen Tag lang Beleidigungen nachplappern. Schauen Sie in den Spiegel und stellen Sie fest, dass Sie wie die Freiheitsstatue aussehen. Bitten Sie die USA, uns weiterhin zu verwöhnen. Ein paar Atombomben abwerfen und sehen, was passiert...

Aus heutiger Sicht war Stanley Kubrick nicht so verrückt, als er seinen Film „Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb“ drehte...

Alles, was uns fehlt, ist der unvergleichliche Peter Sellers... denn die Kriegsbefürworter sind schon da.

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